Bei Streiks von Fluglotsen handelt es sich um außergewöhnliche Umstände nach der Fluggastrechte-VO
LG Saarbrücken v. 10.10.2024, 13 S 20/24
Der Sachverhalt:
Die Z. hatte bei der Beklagten für den 1.5.2023 einen Flug gebucht. Dieser sollte planmäßig 08:30 Uhr UTC (10:30 Uhr Ortszeit) starten und sein Ziel um 10:25 Uhr UTC (12:25 Uhr Ortszeit) erreichen. Der Vorflug, der mit einer Maschine durchgeführt wurde, mit der die Beklagte auch den streitgegenständlichen Flug geplant hatte, verzögerte sich. Er sollte um 05:45 Uhr UTC (07:45 Uhr Ortszeit) starten und um 07:50 Uhr UTC (09:50 Uhr Ortszeit) landen. Aufgrund eines Streiks der Fluglotsen erhielt die Beklagte um 05:53 Uhr UTC (07:52 Uhr Ortszeit) einen neuen Slot für den Abflug für 07:34 Uhr UTC (09:34 Uhr Ortszeit).
Zur Wahrnehmung dieses Slots begann die Beklagte um 06:21 Uhr UTC (08:21 Uhr Ortszeit) mit dem Boarding. Nachdem um 06:55 Uhr UTC (08:55 Uhr Ortszeit) noch ein Fluggast fehlte, wartete der Kapitän bis 07:05 Uhr UTC (09:05 Uhr Ortszeit) mit der Beendigung des Boardings. Da vor dem Abflug das Gepäck des fehlenden Passagiers aus dem Gepäckraum herausgesucht werden musste, verpasste die Beklagte schließlich den Slot um 07:34 Uhr UTC (09:34 Uhr Ortszeit). Der Vorflug startete sodann um 09:58 Uhr UTC (11:58 Uhr Ortszeit) und kam um 11:58 Uhr UTC (13:58 Uhr Ortszeit) an. Der im Anschluss durchgeführte streitgegenständliche Flug erreichte sein Ziel um 14:26 Uhr UTC (16:26 Uhr Ortszeit).
Die Z. hat ihre Ansprüche nach der Fluggastrechte-VO an die abgetreten. Diese verlangte daraufhin wegen der Verspätung 250 € von der Beklagten erstattet. Die Beklagte hat sich hingegen auf die Unvermeidbarkeit der eingetretenen Verspätung berufen. Das AG hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das LG das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen.
Die Gründe:
Das AG hat fälschlicherweise einen Ausgleichsanspruch der Klägerin aus § 398 BGB i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 1 lit. a), Art. 6, Art. 5 EU-Verordnung Nr. 261/2004 (Fluggastrechte-VO) i.H.v. 250 € bejaht, obwohl sich die Ankunft des Flugs am Zielflughafen um 3 Stunden und 59 Minuten verspätet hatte.
In (analoger) Anwendung der Vorschriften über die Annullierung von Flügen (Art. 5 Fluggastrechte-VO) sind Ausgleichsansprüche auch bei Verspätungen von Flügen (Art. 6 Fluggastrechte-VO) begründet, wenn eine sog. große Verspätung von mindestens drei Stunden im Vergleich zur geplanten Ankunftszeit am Endziel eintritt. Die Berufung rügte zu Recht, die Erstrichterin habe die vom EuGH in der Entscheidung vom 4.5.2017 in der Rechtssache C-315/15 aufgestellten Grundsätze bei einer auf verschiedenen Ursachen beruhenden Flugverspätung verkannt.
In dem Ausgangsverfahren der EuGH-Entscheidung hatte ein Flug eine Ankunftsverspätung von mehr als drei Stunden. Demnach sei es Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob das Luftfahrtunternehmen für den Teil der Verspätung, den es auf einen außergewöhnlichen Umstand i.S.v. Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechte-VO zurückführt, den Nachweis erbracht hat, dass dieser Teil der Verspätung auf einem außergewöhnlichen Umstand beruhte, der selbst bei Ergreifung aller zumutbaren Maßnahmen nicht hätte vermieden werden können und gegen dessen Folgen dieses Unternehmen alle zumutbaren Vorbeugungsmaßnahmen ergriffen hat. Sei dies der Fall, habe das nationale Gericht von der gesamten Verspätungszeit bei Ankunft des Fluges die Verspätung abzuziehen, die auf diesem außergewöhnlichen Umstand beruht.
Beruhe hingegen der Teil der Verspätung, von dem das Luftfahrtunternehmen behauptet, dass er auf einen außergewöhnlichen Umstand zurückzuführen sei, offenkundig auf einem solchen, der nicht Gegenstand von Maßnahmen gemäß den vorstehend genannten Anforderungen gewesen ist, könne das Luftfahrtunternehmen keinen derartigen Umstand geltend machen und dürfe deshalb von der gesamten Verspätungszeit bei Ankunft des betreffenden Fluges die auf diesem außergewöhnlichen Umstand beruhende Verspätung nicht abziehen. Demnach sei durch das nationale Gericht nur die Verspätung zu berücksichtigen, die auf dem nicht außergewöhnlichen Umstand beruhe; für diese seien Ausgleichszahlungen jedoch nur zu leisten, wenn sie bei Ankunft des betreffenden Fluges drei Stunden oder mehr betrage.
Nach Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechte-VO ist ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gem. Art. 7 Fluggastrechte-VO zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung - bzw. hier: große Verspätung - auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Hierunter fallen insbesondere Streiks von Fluglotsen (vgl. EuGH-Urt. v. 23.3.2021 - C-28/20; BGH-Urt. v. 12.6.2014 - X ZR 121/13). Die Beklagte hatte auch alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um die eingetretene Verspätung zu verhindern. Damit war die Verzögerung aufgrund des Streiks aus der Gesamtzeit herauszurechnen. Rechnet man 1h49min aus der insgesamt eingetretenen Verspätung von 3h59min heraus, verbleiben 2h10min. Eine Verspätung unter 3h ist jedoch keine sog. große Verspätung und führt deshalb nicht zu einem Ausgleichsanspruch.
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