13.05.2024

Berufung in einem Arzthaftungsprozess: Zur Frage der Aufteilung in Primär- und Sekundärschäden

Es ist unzulässig, die Berufung in einem Arzthaftungsprozess infolge einer Aufteilung in Primär- und Sekundärschäden als teilweise unzulässig zu verwerfen und im Übrigen als unbegründet zurückzuweisen.

BGH v. 27.3.2024 - VI ZB 50/22
Der Sachverhalt:
Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen vermeintlich fehlerhafter zahnärztlicher bzw. kieferchirurgischer Behandlung in Anspruch. Die Beklagte zu 1) ist Zahnärztin. Sie befundete zwei Weisheitszähne der Klägerin als kariös und überwies sie an den Beklagten zu 2), einen Mund- und Kieferchirurgen. Dieser entfernte die Zähne. Im Anschluss wurde die Klägerin aufgrund zahlreicher, vermeintlich auf der Extraktion beruhender Beschwerden von verschiedenen anderen Ärzten behandelt. Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin Schmerzensgeld (mindestens 20.000 €), Haushaltsführungsschaden (27.000 €), Behandlungskosten (rd. 8.000 €) sowie Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz zukünftiger materieller und immaterieller Schäden.

Das LG wies die Klage ab. Den Beklagten könne weder ein Behandlungsfehler noch ein sonstiges zum Schadensersatz verpflichtendes Versäumnis angelastet werden. Im Ergebnis könne aber sogar dahinstehen, ob ein Behandlungsfehler und/oder ein Aufklärungsdefizit vorliege. Die Klägerin habe nämlich nicht nachgewiesen, dass sich hieraus ein anderes Ergebnis in Bezug auf ihren Gesundheitszustand ergeben hätte.

Das OLG verwarf die Berufung der Klägerin - nach vorherigen Hinweisen - durch Beschluss als unzulässig, soweit die Klägerin "das klageabweisende Urteil hinsichtlich der behaupteten Sekundärschäden der zahnärztlichen bzw. kieferchirurgischen Behandlung angreift" (mindestens 16.000 € Schmerzensgeld, 27.000 € Haushaltsführungsschaden, Behandlungskosten in den Folgejahren, anteiliger Feststellungsanspruch). Im Ausgangspunkt begründeten der Schmerzensgeld- und der Schadensersatzanspruch einen einzigen umfassenden Streitgegenstand. Dieser sei jedoch teilbar in den Bereich des Primärschadens und den Bereich des Sekundärschadens. Die Berufung habe es versäumt, hinsichtlich der zahlreichen behaupteten Sekundärschäden die Argumentation des LG anzugreifen, es fehle an der haftungsausfüllenden Kausalität. Primär- und Sekundärschäden seien einer gesonderten rechtlichen Beurteilung zugänglich. Im Übrigen - "Schmerzensgeld für den Primärschaden (2.000 € pro Weisheitszahn, anteiliger Feststellungsanspruch)" - wurde die Berufung durch denselben Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Eine Haftung - so das OLG - scheide bereits dem Grunde nach aus.

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin hatte vor dem BGH keinen Erfolg.

Die Gründe:
Das OLG hätte die Berufung der Klägerin nicht teilweise als unzulässig verwerfen dürfen.

Die Berufungsbegründung muss die bestimmte Bezeichnung der im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten. Im Falle einer umfassenden Anfechtung muss die Berufungsbegründung zudem geeignet sein, das gesamte Urteil in Frage zu stellen. Bei mehreren Streitgegenständen oder einem teilbaren Streitgegenstand muss sie sich grundsätzlich auf alle Teile des Urteils erstrecken, hinsichtlich derer eine Abänderung beantragt ist; andernfalls ist das Rechtsmittel für den nicht begründeten Teil unzulässig. Liegt dem Rechtsstreit dagegen ein einheitlicher Streitgegenstand zugrunde, muss der Berufungskläger nicht zu allen für ihn nachteilig beurteilten Streitpunkten in der Berufungsbegründung Stellung nehmen, wenn schon der allein vorgebrachte - unterstellt erfolgreiche - Berufungsangriff gegen einen Punkt geeignet ist, der Begründung des angefochtenen Urteils insgesamt die Tragfähigkeit zu nehmen.

Anders liegt es dann, wenn das Gericht seine Entscheidung auf mehrere voneinander unabhängige, selbständig tragende rechtliche Erwägungen stützt. In diesem Fall muss der Berufungskläger in der Berufungsbegründung für jede dieser Erwägungen darlegen, warum sie nach seiner Auffassung die angegriffene Entscheidung nicht tragen; andernfalls ist das Rechtsmittel insgesamt unzulässig. Eine Teilentscheidung ist nur zulässig, wenn der betroffene Teil des Streitstoffes in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unabhängig vom übrigen Prozessstoff beurteilt werden und auch im Falle einer Zurückverweisung kein Widerspruch zu der Entscheidung über die übrigen Teile des Streitstoffes auftreten kann. Dies gilt auch für Entscheidungen nach § 522 ZPO.

Danach stellt die Berufungsbegründung der Klägerin das landgerichtliche Urteil insgesamt in Frage. Denn entgegen der Auffassung des OLG ist eine Aufteilung in Primär- und Sekundärschäden unzulässig. Der Aufteilung des Schmerzensgelds auf Primärschäden einerseits und Sekundärschäden andererseits steht bereits der Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes entgegen. Er gebietet es, die Höhe des dem Geschädigten zustehenden Schmerzensgeldes aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen. Verlangt ein Geschädigter - wie hier - uneingeschränkt ein Schmerzensgeld, so werden durch den Klageantrag alle diejenigen Schadensfolgen erfasst, die entweder bereits eingetreten und objektiv erkennbar sind oder deren Eintritt jedenfalls vorhergesehen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden kann.

Lediglich solche Verletzungsfolgen, die zum Beurteilungszeitpunkt noch nicht eingetreten sind und deren Eintritt objektiv nicht vorhersehbar ist, mit denen also nicht oder nicht ernstlich gerechnet werden muss und die deshalb zwangsläufig bei der Bemessung des Schmerzensgeldes unberücksichtigt bleiben müssen, werden von dem Klageantrag nicht umfasst. Danach müssten vorliegend sämtliche von der Klägerin geltend gemachten Schäden - unterstellt die Kausalität zwischen einem etwaigen Behandlungs- und/oder Aufklärungsfehler und diesen könnte festgestellt werden - im Rahmen eines einheitlichen Schmerzensgeldanspruchs berücksichtigt werden.

Die angefochtene Entscheidung erweist sich jedoch aus anderen Gründen als richtig (§ 577 Abs. 3 ZPO). Denn die Berufung der Klägerin ist nach der bindenden Entscheidung des OLG insgesamt unbegründet.

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Kommentierung | ZPO
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Heßler in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024
10/2023

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