03.05.2024

Eigene Sachkunde des Gerichts? Zur Verletzung rechtlichen Gehörs durch Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens

Der BGH hat sich vorliegend mit der Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) durch die Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens aufgrund der Inanspruchnahme eigener Sachkunde des Gerichts im Rahmen der Schadensschätzung befasst.

BGH v. 26.3.2024 - VIII ZR 89/23
Der Sachverhalt:
Die Klägerin nimmt nach einem Unternehmenskauf die Beklagte wegen pflichtwidriger Konkurrenztätigkeit zuletzt auf Zahlung entgangenen Gewinns in Anspruch. Die Beklagte war Gründerin, Alleingesellschafterin und Geschäftsführerin der K. S. GmbH, deren Geschäftsgegenstand die Betreuung schwerstkranker Kinder ist. Im April 2015 veräußerte sie ihre Anteile an der Gesellschaft zu einem Kaufpreis von 2 Mio. € an die Klägerin. Diese ist (als Konzernmutter) mit mehreren Gesellschaften ebenfalls im Bereich der Kinderintensivpflege tätig. Der Geschäftsanteilskauf- und Übertragungsvertrag der Parteien enthielt ein "Wettbewerbs- und Abwerbeverbot", wonach sich die Beklagte verpflichtete, für die Dauer von 30 Monaten nach dem Kauf keine Konkurrenztätigkeit auf dem Gebiet der Betreuung schwerstkranker Kinder - auch nicht durch Gründung eines Unternehmens - auszuüben und keine Mitarbeiter der K. S. GmbH abzuwerben.

Die Beklagte blieb zunächst Geschäftsführerin der veräußerten Gesellschaft. Nachdem es zu Unstimmigkeiten zwischen den Parteien gekommen war, sprach die Klägerin im Februar 2016 zunächst die ordentliche, später auch die außerordentliche Kündigung des Dienstleistungsvertrags mit der Beklagten aus und berief diese als Geschäftsführerin ab. Im März 2016 gründete die Beklagte mittels einer Strohfrau die F. GmbH, welche die Pflege schwerstkranker Kinder im räumlichen Geschäftsgebiet der K. S. GmbH anbot. Bis Ende Mai 2016 kündigten mindestens 32 Angestellte der K. S. GmbH dort ihre Arbeitsverhältnisse und schlossen Arbeitsverträge mit der F. GmbH. Die Klägerin behauptet, die Beklagte habe schon vor dem Verkauf ihrer Gesellschaftsanteile an sie geplant, eine Konkurrenzgesellschaft zu gründen, Mitarbeiter zu übernehmen und auch bisherige Kunden der K. S. GmbH abzuwerben.

Das LG wies die erstinstanzlich zuletzt auf die Rückzahlung des Kaufpreises, Zug um Zug gegen Rückübereignung des Stammkapitalanteils gerichtete Klage ab. Hiergegen legte die Klägerin Berufung ein. Nach einem Hinweis des OLG auf eine mögliche Nebenpflichtverletzung der Beklagten aus dem Unternehmenskaufvertrag aufgrund der Konkurrenztätigkeit beantragte sie zuletzt, die Beklagte zur Zahlung entgangenen Gewinns i.H.v. 800.000 € nebst Zinsen zu verurteilen. Das OLG gab der Klage teilweise statt und verurteilte die Beklagte zur Zahlung von 350.000 € nebst Zinsen. Die Revision ließ das OLG nicht zu. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hob der BGH das Urteil des OLG insoweit auf, als die Beklagte ihre Verurteilung zur Zahlung der Höhe nach angreift, und verwies die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Das OLG hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

Art. 103 Abs. 1 GG gebietet i.V.m. den Grundsätzen der ZPO die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Das OLG hat hier bei der Prüfung der Schadenshöhe im Wege richterlicher Schätzung (§ 287 Abs. 1 ZPO, § 252 Satz 2 BGB) den angebotenen Sachverständigenbeweis nicht erhoben, sondern zur Ermittlung des von der Klägerin begehrten entgangenen Gewinns allein auf deren - von der Beklagten bestrittenen - Vortrag zur tatsächlichen sowie zur hypothetischen Gewinnentwicklung des gekauften Unternehmens abgestellt. Die Annahme des OLG, es bestehe keine Aussicht, mithilfe eines Sachverständigen festzustellen, ob einzelne von der Klägerin zur Ermittlung ihres entgangenen Gewinns herangezogene, von der Beklagten beanstandete Positionen, betriebswirtschaftlich überhaupt einen entgangenen Gewinn begründen können und überdies von der Klägerin der Höhe nach zutreffend berechnet wurden, verletzt die Beklagte in ihrem rechtlichen Gehör. Das OLG hat diesbezüglich eine besondere eigene Sachkunde in Anspruch genommen, ohne darzulegen, woher es diese bezieht.

Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht - auch bei der Schadensschätzung (§ 287 ZPO) - auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss er, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen und ihnen Gelegenheit geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen. Überschreitet das Gericht die Grenzen, die seinem Ermessen i.S.d. § 287 Abs. 1 Satz 2 ZPO gesetzt sind, weil es nach Vorstehendem eine nicht dargelegte Sachkunde in Anspruch nimmt und lehnt es hiernach einen Beweisantrag ab, stellt dies zugleich eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG dar. Dies gilt auch dann, wenn der Tatrichter auf ein Sachverständigengutachten verzichten will, weil er es auf Grundlage eigener Sachkunde für ungeeignet zur Erbringung sachdienlicher Erkenntnisse hält.

So liegt der Fall hier. Durch die Annahme, ein Sachverständiger könne weder beurteilen, ob die von der Klägerin vorgelegte Gewinnermittlung der Jahre 2016 bis 2018 zutreffend nach bilanziellen und betriebswirtschaftlichen Grundsätzen erstellt wurde, noch die Höhe der einzelnen Positionen auf ihre Richtigkeit überprüfen, hat sich das OLG eine Sachkunde angemaßt, ohne darzulegen, woher es diese nimmt, und versäumt, die Parteien vor Erlass des Urteils hierauf hinzuweisen. Die Nichtzulassungsbeschwerde weist zutreffend darauf hin, die Beklagte habe die Gewinnermittlung der Klägerin als zur Schadensdarlegung schon grundsätzlich ungeeignet angesehen und hierzu konkret eingewandt, mehrere von der Klägerin in die Berechnung ihres tatsächlichen und ihres hypothetischen Gewinns eingestellte Positionen hätten bereits dem Grunde nach hierzu nicht herangezogen werden dürfen. Das OLG hat sich ebenso hinsichtlich der Beurteilung der Höhe einzelner in die Gewinnermittlung durch die Klägerin eingestellter Positionen eine eigene Sachkunde angemaßt, ohne darzulegen, worauf diese beruht.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | ZPO
§ 287 Schadensermittlung; Höhe der Forderung
Greger in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024
10/2023

Kommentierung | BGB
§ 252 Entgangener Gewinn
Ebert in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023

Rechtsprechung:
Gehörsverletzung: Verzicht auf Einholung eines Gutachtens zur Erwerbsfähigkeit
BGH vom 12.03.2024 - VI ZR 283/21
MDR 2024, 589
MDR0066173

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