07.11.2022

EuGH-Vorlage: Voraussetzungen für Aufhebung der Aussetzung gem. § 150 Satz 1 ZPO

Hat ein nationales Gericht den Rechtsstreit ausgesetzt und den EuGH mit einem Vorabentscheidungsgesuch befasst, ist es vor Abschluss des Vorabentscheidungsverfahrens nicht gem. § 150 Satz 1 ZPO zur Aufhebung der Aussetzung verpflichtet, wenn der Kläger den Verzicht auf die Klageforderung für den Fall der Fortsetzung des Rechtsstreits in Aussicht stellt und der Beklagte einer Fortsetzung des Rechtsstreits vor Abschluss des Vorabentscheidungsverfahrens widerspricht. Die analoge Anwendung des § 555 Abs. 3 ZPO auf im Zusammenhang mit der Anrufung des EuGH abgegebene oder in Aussicht gestellte Prozesserklärungen kann dahinstehen.

LG Berlin v. 3.11.2022 - 67 S 259/21
Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist eine GmbH, die über eine Registrierung gem. § 10 RDG für den Bereich der Inkassodienstleistungen verfügt. Sie hatte aus abgetretenem Recht der Mieter einer Wohnung der beklagten Vermieter Ansprüche wegen eines behaupteten Verstoßes gegen die Begrenzung der Miethöhe geltend gemacht. Das AG hat die Klage abgewiesen; die Kammer hat das bei ihr dagegen geführte Berufungsverfahren ausgesetzt und den EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens angerufen (vgl. Kammer, Beschl. v. 2.6.2022 - 67 S 259/21. Das Vorabentscheidungsverfahren ist seitdem bei dem Gerichtshof anhängig (C-400/22).

Die Klägerin beantragte später, die Anordnung zur Aussetzung des Verfahrens aufzuheben, da sie "... beabsichtigt, in Wahrnehmung ihrer Dispositionsbefugnis in vollem Umfang nach § 306 ZPO auf die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche zu verzichten." Die Beklagten haben einer Aufhebung der Aussetzungsentscheidung widersprochen. Die weitere Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens sei aus Gründen der Prozessökonomie und der Rechtsvereinheitlichung geboten; zudem könne ein gegen ihren Willen erklärter Verzicht schon in Anwendung des Rechtsgedankens von § 555 Abs. 3 ZPO die Erforderlichkeit der weiteren Durchführung des vor dem Gerichtshof der Europäischen Union geführten Vorabentscheidungsverfahrens und einer späteren streitigen Sachentscheidung nicht beseitigen.

Das LG hat den auf Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses der Kammer vom 2.6.2022 gerichteten Antrag der Klägerin zurückgewiesen.

Die Gründe:
Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Aussetzungsanordnung gem. § 150 Satz 1 ZPOcsind hier nicht erfüllt.

Es spricht schon im Ausgangspunkt vieles dafür, dass der Kammer eine Aufhebung der Aussetzung wegen des von der Klägerin in Aussicht gestellten Klageverzichts während des noch laufenden Vorlageverfahrens vor dem EuGH in analoger Anwendung von § 555 Abs. 3 ZPO versagt ist, ausweislich dessen ein (Anerkenntnis-)Urteil im Revisionsverfahren nur auf Antrag ergehen darf. Die Erwägungen des Gesetzgebers, durch den am 1.1.2014 eingeführten § 555 Abs. 3 ZPO der zunehmenden Praxis einen Riegel vorzuschieben, durch eine Prozesserklärung gegen den Willen des Prozessgegners eine grundsätzliche Entscheidung durch das nationale Revisionsgericht zu verhindern, gelten für die in ihrer Reichweite und Bedeutung über nationale Revisionsentscheidungen weit hinausgehenden Entscheidungen des EuGH erst recht. Das kann jedoch im Ergebnis dahinstehen.

Der Rechtsstreit ist auch weiterhin auszusetzen, da der EuGH über das Vorlageersuchen der Kammer noch nicht befunden hat. Die - fortdauernde - Aussetzung des Rechtsstreits wäre deshalb sogar gerechtfertigt, wenn die Kammer den Gerichtshof nicht selbst angerufen, sondern ein anderes Gericht den Gerichtshof in einem gesonderten Vorabentscheidungsverfahren mit der Vorlagefrage befasst hätte (st. Rspr., vgl. nur BAG, Beschl. v. 28.7.2021 - 10 AZR 397/20).

Der von der Klägerin für den Fall der Verfahrensfortsetzung in Aussicht gestellte Verzicht auf ihre Klageforderungen führt zu keiner abweichenden Beurteilung. Die fortdauernde Aussetzung des Rechtsstreits ist bei Anhängigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens mit derselben oder einer weitgehend gleichen Rechtsfrage aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung und Prozessökonomie gerechtfertigt. Denn nur so ist es dem Gerichtshof möglich, das bereits anhängige Verfahren zeitnah abzuschließen, ohne durch weitere Vorabentscheidungsverfahren aufgehalten oder mit weiteren Vorabentscheidungsverfahren befasst zu werden. Mit solchen wäre für den Fall einer Zurücknahme des Vorabentscheidungsersuchens der Kammer und einer Fortsetzung des Rechtsstreits in anderen Verfahren zu rechnen, jedenfalls wären sie nicht auszuschließen.

Nichts anderes gilt für den hiesigen Rechtsstreit, sofern die Klägerin den von ihr bislang lediglich in Aussicht gestellten Verzicht nach der Aufhebung der Aussetzung tatsächlich nicht erklären oder die Kammer aus sonstigen Gründen zur neuerlichen Anrufung des Gerichtshofs auf dem Vorabentscheidungswege veranlasst sein sollte. Diese Mehrfachbefassung des Gerichtshofes gilt es auch unter Beachtung des Grundsatzes loyaler Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH zu vermeiden (vgl. EuGH, Urt. v. 25.7.2018 - C-135/16 (Georgsmarienhütte GmbH u.a./Bundesrepublik Deutschland). Unabhängig davon ist nur durch die gewählte Verfahrenshandhabung sichergestellt, dass für die Beteiligten anderer Verfahren der Aufwand mit einer eigenen Vorlage an den Gerichtshof entfällt.

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Aufsatz:
Aktuelle Entwicklungen im zivilprozessualen Beweisrecht
Holger Jäckel, MDR 2022, 677

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