13.03.2020

Flug annulliert und Alternativflug verspätet: Fluggast hat Anspruch auf zwei Ausgleichszahlungen

Ein Fluggast, der eine Ausgleichsleistung für die Annullierung eines Fluges erhalten und einen Alternativflug akzeptiert hat, hat zudem Anspruch auf eine Ausgleichszahlung wegen Verspätung des Alternativfluges. Ein Luftfahrtunternehmen kann sich für die Befreiung von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen nicht auf "außergewöhnliche Umstände" berufen, die mit dem Defekt eines sog. "On condition"-Teils zusammenhängen.

EuGH v. 12.3.2020 - C-832/18
Der Sachverhalt:
Die Kläger buchten bei der beklagten Fluggesellschaft Finnair einen Direktflug von Helsinki nach Singapur. Dieser für den 11.10.2013 um 23:55 Uhr vorgesehene Flug wurde jedoch aufgrund eines in der Maschine aufgetretenen technischen Problems annulliert. Nach Annahme eines entsprechenden Angebots der Beklagten wurden die Reisenden auf den Flug Helsinki-Singapur via Chongqing (China), Abflugzeit am darauf folgenden Tag, dem 12.10.2013, um 17:40 Uhr und geplante Ankunftszeit in Singapur am 13.10. um 17:25 Uhr, umgebucht. Die Beklagte führte den Alternativflug Helsinki-Chongqing-Singapur aus. Wegen einer ausgefallenen Servolenkung für das Steuerruder der betreffenden Maschine verzögerte sich jedoch ihre anderweitige Beförderung. Sie kamen daher in Singapur am 14.10.2013 um 00:15 Uhr an.

Mit ihrer Klage begehren die Kläger Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines Betrags nach der Fluggastrechteverordnung an jeden von ihnen i.H.v. 600 € zzgl. Zinsen wegen der Annullierung des ursprünglichen Fluges Helsinki-Singapur. Außerdem beantragten sie, die Beklagte auch zur Zahlung eines Betrags an jeden von ihnen i.H.v. 600 € zzgl. Zinsen wegen der mehr als dreistündigen Verspätung der Ankunft des Alternativfluges Helsinki-Chongqing-Singapur zu verurteilen.

Die Beklagte gewährte eine Ausgleichsleistung von 600 € wegen der Annullierung des ursprünglichen Fluges Helsinki-Singapur. Sie weigerte sich jedoch, die zweite von den Klägern begehrte Ausgleichszahlung zu leisten. Die Kläger hätten keinen Anspruch auf eine zweite Ausgleichszahlung nach der Verordnung, außerdem sei der Alternativflug wegen außergewöhnlicher Umstände i.S.d. Verordnung verzögert worden. Eine der drei Servolenkungen des Steuerruders zur Lenkung des Flugzeugs, das diesen Flug ausgeführt habe, sei ausgefallen, wobei der Hersteller des Flugzeuges mitgeteilt habe, dass mehrere Maschinen dieses Typs einen versteckten Fabrikations- bzw. Konstruktionsfehler aufwiesen, der die Servolenkungen des Steuerruders betreffe. Außerdem handle es sich bei der Servolenkung des Steuerruders um ein sog. "On condition"-Teil, das nur bei Defekt des früheren Teils durch ein neues Teil ersetzt werde.

Unter diesen Umständen setzte das mit der Sache befasste Berufungsgericht in Finnland das Verfahren aus und legte dem EuGH zur Vorabentscheidung die Frage vor, ob ein Fluggast, der wegen der Annullierung eines Fluges eine Ausgleichszahlung erhalten und den ihm angebotenen Alternativflug akzeptiert hat, Anspruch auf eine Ausgleichszahlung wegen Verspätung des Alternativfluges hat, wenn diese Verspätung ein Ausmaß erreicht, das zu einer Ausgleichszahlung berechtigt, und das Luftfahrtunternehmen des Alternativfluges dasselbe ist wie das des annullierten Fluges.

Die Gründe:
Die Verordnung enthält keine Bestimmung, mit der die Rechte der Fluggäste, die wie im vorliegenden Fall anderweitig befördert werden, beschränkt werden sollen; das gilt auch für ihren etwaigen Ausgleichsanspruch. Daher hat nach der Rechtsprechung des EuGH ein Fluggast, der - nachdem er den vom Luftfahrtunternehmen infolge der Annullierung seines Fluges angebotenen Alternativflug akzeptiert hat - sein Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von diesem Luftfahrtunternehmen für den Alternativflug geplanten Ankunftszeit erreicht hat, Anspruch auf eine Ausgleichszahlung. Fluggäste, die Annullierungen oder große Verspätungen hinnehmen mussten, hatten nämlich diese Unannehmlichkeiten sowohl in Verbindung mit der Annullierung ihres ursprünglich gebuchten Fluges als auch später aufgrund der großen Verspätung ihres Alternativfluges. Daher steht es im Einklang mit dem Ziel, diesen großen Unannehmlichkeiten abzuhelfen, wenn diesen Fluggästen ein Ausgleichsanspruch für jede dieser aufeinander folgenden Unannehmlichkeiten gewährt wird.

Das vorlegende Gericht hat zudem gefragt, ob sich ein Luftfahrtunternehmen für die Befreiung von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen auf "außergewöhnliche Umstände" berufen kann, die mit dem Defekt eines Teils zusammenhängen, das nur wegen Defekts des früheren Teils ausgetauscht wird, sofern er ständig ein Ersatzteil vorrätig hält. Nach der Rechtsprechung des EuGH können als "außergewöhnliche Umstände" Vorkommnisse angesehen werden, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind. Technische Mängel, die sich bei der Wartung von Flugzeugen zeigen, können als solche grundsätzlich keine "außergewöhnlichen Umstände" darstellen.

Der Defekt eines sog. "On condition"-Teils, auf dessen Austausch sich das Luftfahrtunternehmen durch ständiges Vorrätighalten eines Ersatzteils vorbereitet hat, ist aber ein Vorkommnis, das seiner Natur oder Ursache nach Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens und von ihm tatsächlich zu beherrschen ist, es sei denn, ein solcher Defekt ist nicht untrennbar mit dem System zum Betrieb des Flugzeugs verbunden, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Ein Luftfahrtunternehmen kann sich demnach für die Befreiung von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen nicht auf "außergewöhnliche Umstände" berufen, die mit dem Defekt eines sog. "On condition"-Teils zusammenhängen.
EuGH PM Nr. 31 vom 12.3.2020
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