Fremdeinschätzungen medizinischer Laien sind bei der Beurteilung der Testierfähigkeit nicht maßgeblich
OLG Hamm v. 26.4.2024 - 10 W 114/23
Der Sachverhalt:
Der Erblasser war 2022 im Alter von 87 Jahren verstorben. Aus der geschiedenen Ehe sind drei Kinder, die Beteiligten zu 1) - 3) hervorgegangen. Er hatte am 15.2.2016 zwei handschriftliche Testamente verfasst. Zunächst erwog er dabei dem Beteiligten zu 2) lediglich seinen Pflichtteil zukommen zu lassen. Im Juni 2018 genehmigte der Erblasser dann notariell zwei Grundstückskaufverträge. Am 29.3.2019 suchte er in Begleitung des Beteiligten zu 2) seine Hausbank auf, um bestehende Geldanlagen zu besprechen. Im April 2019 stellte die Beteiligte zu 1) einen Antrag auf Einrichtung der Betreuung. Der Erblasser verfasste am 23.5.2019 auf einer Kopie des vorstehenden Testamentes eine weitere handschriftliche Verfügung mit folgendem Inhalt: "Mein letzter Wille ist, daß meine 3 Kinder mein gesamtes Vermögen zu gleichen Teilen (selber ist gestrichen) erben sollen."
Das AG hat am 19.11.2019 eine Betreuung eingerichtet. Zur Betreuerin wurde die Beteiligte zu 1) bestellt. In Vermögensangelegenheiten wurde eine Rechtsanwältin zur Gegenbetreuerin eingesetzt. Die Beteiligte zu 1) hat, gestützt auf das Testament vom 15.2.2016 die Erteilung eines gemeinschaftlichen Erbscheins beantragt. Hierzu hat sie ausgeführt, die letztwillige Verfügung vom 23.5.2019 sei unwirksam. Entweder sei der Erblasser bedroht oder getäuscht worden oder er habe diese Verfügung nicht selbst geschrieben.
Der Beteiligte zu 2) ist dem Antrag entgegengetreten und hat ausgeführt, das weitere Testament vom 23.5.2019 sei wirksam. Das abweichende Schriftbild der Unterschrift des Erblassers erkläre sich vor dem Hintergrund, dass dieser die Langform seines Namens immer nur für wichtige Dokumente gewählt habe. Ansonsten habe er sich auf die Zeichnung mit dem Nachnamen beschränkt. Ab 2018 habe er wieder einen ganz normalen Kontakt zu seinem Vater gepflegt.
Das AG hat nach Zeugenvernehmung sowie Einholung eines fachmedizinischen Gutachtens die zur Begründung des Erbscheinantrags der Beteiligten zu1) erforderlichen Tatsachen für festgestellt erachtet. Dazu hat es ausgeführt, es sei erwiesen, dass der Erblasser im Zeitpunkt der Errichtung des Testaments vom 23.5.2019 testierunfähig gewesen sei. Das OLG hat die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beteiligten zu 2) zurückgewiesen.
Die Gründe:
Zu Recht hat das AG die zur Begründung des Antrags der Beteiligten zu 1) erforderlichen Tatsachen für festgestellt erachtet.
Die Erbeinsetzung der Beteiligten durch Testament vom 15.2.2016 wurde nicht gem. § 2258 BGB wirksam widerrufen durch das spätere Testament des Erblassers vom 23.5.2019, wobei unerheblich war, ob dieses Testament durch den Erblasser selbst ge- und unterschrieben worden war. Denn der Erblasser war am 23.5.2019 feststellbar testierunfähig i.S.d. § 2229 Abs. 4 BGB und damit an der wirksamen Errichtung eines abweichenden Testaments gehindert.
Gem. § 29 Abs.1 FamFG erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise in geeigneter Form. Vorliegend hat sich das Ermessen des Nachlassgerichts auch nicht gem. § 30 FamFG zur Durchführung einer förmlichen Beweisaufnahme reduziert. Da eine absolute Gewissheit im naturwissenschaftlichen Sinne weder verlangt, noch jemals zu erreichen sein wird, genügt auch im Geltungsbereich des Untersuchungsgrundsatzes für die Überzeugung des Gerichts ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der vernünftige Zweifel ausschließt. Diese Gewissheit liegt vor, wenn sie einen Grad erreicht, "der den Zweifeln Einhalt gebietet", ohne sie vollständig ausschließen zu können.
Nach den Ausführungen des Sachverständigen bestand beim Erblasser schon zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung im Mai mit großer Sicherheit eine weiterhin zunehmende krankhafte Störung der Geistestätigkeit. Der Sachverständige hat dabei ergänzend klargestellt, dass es sich bei der Wahrscheinlichkeitsstufe "mit großer Sicherheit" um eine Wahrscheinlichkeit im oberen Bereich handle. Demnach litt der Erblasser an einer ausgeprägten senilen Demenz in Form einer Alzheimererkrankung (ICD10: G30.1/F00).
Der Senat folgte damit den Ausführungen des Sachverständigen, an dessen Sachkunde kein Zweifel bestand. Tatsachen, die sich im Freibeweisverfahren nicht haben bestätigen lassen, muss das Gericht grundsätzlich nicht auch noch nach § 30 Abs. 3 FamFG strengbeweislich nachgehen. Bloße Fremdeinschätzungen medizinischer Laien kommt nach der Rechtsprechung grundsätzlich kein Gewicht bei der Beurteilung der Testierfähigkeit zu. Derartige Einschätzungen von Zeugen können die fachärztliche Beurteilung des gerichtlich bestellten Sachverständigen nicht entkräften.
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Justiz NRW
Der Erblasser war 2022 im Alter von 87 Jahren verstorben. Aus der geschiedenen Ehe sind drei Kinder, die Beteiligten zu 1) - 3) hervorgegangen. Er hatte am 15.2.2016 zwei handschriftliche Testamente verfasst. Zunächst erwog er dabei dem Beteiligten zu 2) lediglich seinen Pflichtteil zukommen zu lassen. Im Juni 2018 genehmigte der Erblasser dann notariell zwei Grundstückskaufverträge. Am 29.3.2019 suchte er in Begleitung des Beteiligten zu 2) seine Hausbank auf, um bestehende Geldanlagen zu besprechen. Im April 2019 stellte die Beteiligte zu 1) einen Antrag auf Einrichtung der Betreuung. Der Erblasser verfasste am 23.5.2019 auf einer Kopie des vorstehenden Testamentes eine weitere handschriftliche Verfügung mit folgendem Inhalt: "Mein letzter Wille ist, daß meine 3 Kinder mein gesamtes Vermögen zu gleichen Teilen (selber ist gestrichen) erben sollen."
Das AG hat am 19.11.2019 eine Betreuung eingerichtet. Zur Betreuerin wurde die Beteiligte zu 1) bestellt. In Vermögensangelegenheiten wurde eine Rechtsanwältin zur Gegenbetreuerin eingesetzt. Die Beteiligte zu 1) hat, gestützt auf das Testament vom 15.2.2016 die Erteilung eines gemeinschaftlichen Erbscheins beantragt. Hierzu hat sie ausgeführt, die letztwillige Verfügung vom 23.5.2019 sei unwirksam. Entweder sei der Erblasser bedroht oder getäuscht worden oder er habe diese Verfügung nicht selbst geschrieben.
Der Beteiligte zu 2) ist dem Antrag entgegengetreten und hat ausgeführt, das weitere Testament vom 23.5.2019 sei wirksam. Das abweichende Schriftbild der Unterschrift des Erblassers erkläre sich vor dem Hintergrund, dass dieser die Langform seines Namens immer nur für wichtige Dokumente gewählt habe. Ansonsten habe er sich auf die Zeichnung mit dem Nachnamen beschränkt. Ab 2018 habe er wieder einen ganz normalen Kontakt zu seinem Vater gepflegt.
Das AG hat nach Zeugenvernehmung sowie Einholung eines fachmedizinischen Gutachtens die zur Begründung des Erbscheinantrags der Beteiligten zu1) erforderlichen Tatsachen für festgestellt erachtet. Dazu hat es ausgeführt, es sei erwiesen, dass der Erblasser im Zeitpunkt der Errichtung des Testaments vom 23.5.2019 testierunfähig gewesen sei. Das OLG hat die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beteiligten zu 2) zurückgewiesen.
Die Gründe:
Zu Recht hat das AG die zur Begründung des Antrags der Beteiligten zu 1) erforderlichen Tatsachen für festgestellt erachtet.
Die Erbeinsetzung der Beteiligten durch Testament vom 15.2.2016 wurde nicht gem. § 2258 BGB wirksam widerrufen durch das spätere Testament des Erblassers vom 23.5.2019, wobei unerheblich war, ob dieses Testament durch den Erblasser selbst ge- und unterschrieben worden war. Denn der Erblasser war am 23.5.2019 feststellbar testierunfähig i.S.d. § 2229 Abs. 4 BGB und damit an der wirksamen Errichtung eines abweichenden Testaments gehindert.
Gem. § 29 Abs.1 FamFG erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise in geeigneter Form. Vorliegend hat sich das Ermessen des Nachlassgerichts auch nicht gem. § 30 FamFG zur Durchführung einer förmlichen Beweisaufnahme reduziert. Da eine absolute Gewissheit im naturwissenschaftlichen Sinne weder verlangt, noch jemals zu erreichen sein wird, genügt auch im Geltungsbereich des Untersuchungsgrundsatzes für die Überzeugung des Gerichts ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der vernünftige Zweifel ausschließt. Diese Gewissheit liegt vor, wenn sie einen Grad erreicht, "der den Zweifeln Einhalt gebietet", ohne sie vollständig ausschließen zu können.
Nach den Ausführungen des Sachverständigen bestand beim Erblasser schon zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung im Mai mit großer Sicherheit eine weiterhin zunehmende krankhafte Störung der Geistestätigkeit. Der Sachverständige hat dabei ergänzend klargestellt, dass es sich bei der Wahrscheinlichkeitsstufe "mit großer Sicherheit" um eine Wahrscheinlichkeit im oberen Bereich handle. Demnach litt der Erblasser an einer ausgeprägten senilen Demenz in Form einer Alzheimererkrankung (ICD10: G30.1/F00).
Der Senat folgte damit den Ausführungen des Sachverständigen, an dessen Sachkunde kein Zweifel bestand. Tatsachen, die sich im Freibeweisverfahren nicht haben bestätigen lassen, muss das Gericht grundsätzlich nicht auch noch nach § 30 Abs. 3 FamFG strengbeweislich nachgehen. Bloße Fremdeinschätzungen medizinischer Laien kommt nach der Rechtsprechung grundsätzlich kein Gewicht bei der Beurteilung der Testierfähigkeit zu. Derartige Einschätzungen von Zeugen können die fachärztliche Beurteilung des gerichtlich bestellten Sachverständigen nicht entkräften.
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