Gerichte können Vorliegen einer (gesundheitlichen) Arbeitsfähigkeit nicht ohne weiteres selbst beurteilen
BGH v. 12.3.2024 - VI ZR 283/21
Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist Dienstherrin des städtischen Feuerwehrbeamten B (Geschädigter). Sie verlangt aus gem. § 81 LBG NRW übergegangenem Recht von den Beklagten die Erstattung von Leistungen, die sie nach einem Verkehrsunfall am 1.8.2009 an den Geschädigten erbracht hat. Dieser hatte aufgrund des Unfalls u.a. komplexe Frakturen des rechten Handgelenks und des rechten Unterarms erlitten und wurde wegen Dienstunfähigkeit mit Wirkung zum 30.4.2012 in den Ruhestand versetzt. Streitgegenständlich sind die im Zeitraum vom 1.4.2011 bis zum 31.12.2016 gezahlten Gehälter und Versorgungsbezüge i.H.v. rd. 124.000 € abzgl. von den Beklagten gezahlter 11.000 €. Die volle Haftung der Beklagten gegenüber dem Geschädigten für das Unfallereignis ist dem Grunde nach unstreitig.
Das LG gab der Klage vollumfänglich, das OLG lediglich teilweise, hinsichtlich der von der Klägerin im Zeitraum vom 1.4.2011 bis 31.8.2012 an den Geschädigten gezahlten Beträge i.H.v. rd. 31.000 € statt. Die Revision zum BGH wurde nicht zugelassen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.
Die Gründe:
Das OLG hat in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.
Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen. Diesen Anforderungen genügt das Berufungsurteil nicht. Es stützt die teilweise Abweisung der Klage darauf, dass der Geschädigte gegen seine Obliegenheit zur Schadensminderung (§ 254 Abs. 2 BGB) verstoßen habe. Insoweit ist im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend, dass es im Falle einer die Arbeitskraft beeinträchtigenden Gesundheitsverletzung als Ausfluss der Schadensminderungspflicht dem Verletzten im Verhältnis zum Schädiger obliegt, seine verbliebene Arbeitskraft in den Grenzen des Zumutbaren so nutzbringend wie möglich zu verwerten.
Voraussetzung für eine Kürzung der Schadensersatzansprüche des Geschädigten wegen unzureichender Anstrengungen zur Aufnahme einer erneuten Erwerbstätigkeit ist demnach zunächst die Feststellung, dass und in welchem Umfang der Geschädigte nach der erfolgten Gesundheitsverletzung noch oder wieder arbeitsfähig ist. Insoweit ist der den Einwand aus § 254 Abs. 2 BGB erhebende Schädiger darlegungs- und beweispflichtig. Nur soweit in einem zweiten Schritt die Frage der Möglichkeit des Einsatzes der festgestellten verbliebenen Arbeitskraft in Rede steht, trifft den Geschädigten - bzw. den aus übergegangenem Recht vorgehenden Kläger - eine sekundäre Darlegungslast, wenn er einen Verdienstausfall als Schaden geltend macht. Nach der Senatsrechtsprechung hat der Verletzte, wenn er wieder arbeitsfähig oder teilarbeitsfähig ist, den Schädiger in der Regel über die für ihn zumutbaren Arbeitsmöglichkeiten und seine Bemühungen um einen angemessenen Arbeitsplatz zu unterrichten.
Das OLG hat aus den von ihm festgestellten Tätigkeiten des Geschädigten nach dem Unfallereignis den Schluss gezogen, dass dieser ab dem 1.9.2012 - bis zum Umfang einer Vollbeschäftigung hin - arbeitsfähig war. Dabei hat es die in der von der Klägerin vorgelegten Bescheinigung des Hausarztes des Geschädigten vom 25.4.2021 sowie dem ärztlichen Befundbericht der ihn behandelnden Psychotherapeutin vom 11.5.2021 aufgeführten gesundheitlichen Beeinträchtigungen (u.a. depressive Störung, posttraumatisches Belastungssyndrom, chronische Schmerzstörung) als tatsächlich vorliegend unterstellt. Es teilt aber nicht die auf diesen Diagnosen beruhende Einschätzung der behandelnden Ärzte hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten. Der Hausarzt des Geschädigten war der Ansicht, dass aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen im Zeitraum vom 1.5.2012 bis 31.12.2016 keine Arbeitsfähigkeit im erwerbsrelevanten Umfang bestanden habe. Körperlich belastende Tätigkeiten hätten aufgrund der Hand- und Rückensituation und administrative Tätigkeiten wegen der eskalierenden psychischen Wirkung jeweils nur unter drei Stunden täglich durchgeführt werden können. Die Psychotherapeutin gelangte zu dem Ergebnis, dass aufgrund vorhandener und nicht reversibler psychischer Beeinträchtigungen für den Zeitraum von 2012 bis 31.12.2016 von einer anhaltenden Erwerbsunfähigkeit des Geschädigten auszugehen sei.
Damit hat sich das OLG medizinische Sachkunde bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten angemaßt, deren Voraussetzungen es den Parteien nicht offengelegt hat. Das OLG hätte die Arbeitsfähigkeit im angenommenen Umfang angesichts der von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen nicht bejahen dürfen, ohne sich auf das Gutachten eines fachärztlich qualifizierten Sachverständigen zu stützen. Dieser wäre dann ggf. dazu zu befragen gewesen, ob die vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten aus medizinischer Sicht gegen die Annahme sprechen, dass die Arbeitsfähigkeit des Geschädigten aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt ist. Dabei hätte sich das OLG auch mit dem von der Beschwerde als übergangen gerügten Vortrag der Klägerin auseinandersetzen müssen, wonach die Vermietung der Ferienwohnung durch den Geschädigten zusammen mit seiner Frau erfolge und daher einen wöchentlichen Zeitaufwand von lediglich zwei Stunden erfordere und die vom Geschädigten geführte Galerie lediglich an Wochenenden geöffnet habe. Der Schluss des OLG von der Ausübung einer geringfügigen Tätigkeit für die Caritas auf eine Arbeitsfähigkeit des Geschädigten "bis zum Umfang einer Vollbeschäftigung" ist auch ungeachtet der hierfür fehlenden medizinischen Sachkunde auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht nachvollziehbar.
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Hendrik Schultzky, MDR 2024, 284
MDR006454
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Die Klägerin ist Dienstherrin des städtischen Feuerwehrbeamten B (Geschädigter). Sie verlangt aus gem. § 81 LBG NRW übergegangenem Recht von den Beklagten die Erstattung von Leistungen, die sie nach einem Verkehrsunfall am 1.8.2009 an den Geschädigten erbracht hat. Dieser hatte aufgrund des Unfalls u.a. komplexe Frakturen des rechten Handgelenks und des rechten Unterarms erlitten und wurde wegen Dienstunfähigkeit mit Wirkung zum 30.4.2012 in den Ruhestand versetzt. Streitgegenständlich sind die im Zeitraum vom 1.4.2011 bis zum 31.12.2016 gezahlten Gehälter und Versorgungsbezüge i.H.v. rd. 124.000 € abzgl. von den Beklagten gezahlter 11.000 €. Die volle Haftung der Beklagten gegenüber dem Geschädigten für das Unfallereignis ist dem Grunde nach unstreitig.
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Damit hat sich das OLG medizinische Sachkunde bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten angemaßt, deren Voraussetzungen es den Parteien nicht offengelegt hat. Das OLG hätte die Arbeitsfähigkeit im angenommenen Umfang angesichts der von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen nicht bejahen dürfen, ohne sich auf das Gutachten eines fachärztlich qualifizierten Sachverständigen zu stützen. Dieser wäre dann ggf. dazu zu befragen gewesen, ob die vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten aus medizinischer Sicht gegen die Annahme sprechen, dass die Arbeitsfähigkeit des Geschädigten aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt ist. Dabei hätte sich das OLG auch mit dem von der Beschwerde als übergangen gerügten Vortrag der Klägerin auseinandersetzen müssen, wonach die Vermietung der Ferienwohnung durch den Geschädigten zusammen mit seiner Frau erfolge und daher einen wöchentlichen Zeitaufwand von lediglich zwei Stunden erfordere und die vom Geschädigten geführte Galerie lediglich an Wochenenden geöffnet habe. Der Schluss des OLG von der Ausübung einer geringfügigen Tätigkeit für die Caritas auf eine Arbeitsfähigkeit des Geschädigten "bis zum Umfang einer Vollbeschäftigung" ist auch ungeachtet der hierfür fehlenden medizinischen Sachkunde auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht nachvollziehbar.
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