21.10.2022

Haften Fluglinien auch für psychische Unfallfolgen?

Der EuGH hat sich vorliegend mit der Frage befasst, ob eine Fluglinie für eine psychische Beeinträchtigung, die ein Fluggast durch einen Unfall an Bord oder beim Ein- oder Aussteigen erlitten hat, Schadenersatz leisten muss.

EuGH v. 20.10.2022 - C-111/21
Der Sachverhalt:
Der österreichische Oberste Gerichtshof hat einen Rechtsstreit zwischen einer Flugreisenden und der beklagten Laudamotion zu entscheiden. Die Klägerin verlangt von der Beklagten Schadenersatz wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung, die sie bei einer Notfallevakuierung des Flugzeugs, mit dem sie befördert werden sollte, erlitten hat und derentwegen sie sich in ärztlicher Behandlung befindet. Sie hatte das Flugzeug über einen Notausstieg verlassen und war durch den Jetblast des rechten Triebwerks, das noch in Bewegung war, mehrere Meter durch die Luft geschleudert worden.

Die Beklagte ist der Ansicht, dass im Übereinkommen von Montreal (zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr), das hier ausschließlich anwendbar sei, eine Haftung nur für Körperverletzungen im eigentlichen Sinne vorgesehen sei, nicht aber für bloß psychische Beeinträchtigungen.

Der Oberste Gerichtshof hat das Verfahren ausgesetzt und den EuGH um Auslegung des Übereinkommens ersucht.

Die Gründe:
Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal ist dahin auszulegen, dass für eine psychische Beeinträchtigung, die ein Fluggast durch einen Unfall im Sinne dieser Bestimmung erlitten hat und die keinen Zusammenhang mit einer Körperverletzung im Sinne dieser Bestimmung aufweist, in gleicher Weise Schadenersatz zu leisten ist wie für eine solche Körperverletzung, sofern der Fluggast eine Beeinträchtigung seiner psychischen Integrität nachweist, die von solcher Schwere oder Intensität ist, dass sie sich auf seinen allgemeinen Gesundheitszustand auswirkt und nicht ohne ärztliche Behandlung abklingen kann.

Der EuGH weist darauf hin, dass es im vorliegenden Fall um eine medizinisch nachgewiesene psychische Beeinträchtigung geht, die keinen Zusammenhang mit einer Körperverletzung in ihrer gewöhnlichen Bedeutung aufweist. Ein Fluggast, der infolge eines Unfalls eine psychische Beeinträchtigung erlitten hat, kann sich jedoch je nach Schwere des daraus resultierenden Schadens in einer Lage befinden, die mit der eines Fluggastes vergleichbar ist, der eine Körperverletzung erlitten hat. Angesichts der Entstehungsgeschichte und der Ziele des Übereinkommens von Montreal ist daher davon auszugehen, dass dieses es zulässt, Schadenersatz für eine durch einen Unfall verursachte psychische Beeinträchtigung zu leisten, die keinen Zusammenhang mit einer Körperverletzung im Sinne des Übereinkommens aufweist.

Allerdings muss die Notwendigkeit eines angemessenen Schadenersatzes mit der Notwendigkeit in Einklang gebracht werden, für einen gerechten Interessenausgleich zwischen Luftfahrtunternehmen und Reisenden zu sorgen. Somit kann die Haftung des Luftfahrtunternehmens auf der Grundlage des Übereinkommens von Montreal nur dann ausgelöst werden, wenn der verletzte Fluggast u.a. mittels eines medizinischen Gutachtens und Belegen über eine ärztliche Behandlung rechtlich hinreichend nachweist, dass eine Beeinträchtigung seiner psychischen Integrität vorliegt, die er infolge eines Unfalls i.S.d. Übereinkommens erlitten hat und die von solcher Schwere oder Intensität ist, dass sie sich insbesondere in Anbetracht ihrer psychosomatischen Wirkungen auf seinen allgemeinen Gesundheitszustand auswirkt und nicht ohne ärztliche Behandlung abklingen kann.

Diese Auslegung ermöglicht es sowohl verletzten Fluggästen, nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs einen angemessenen Schadenersatz zu erlangen, als auch Luftfahrtunternehmen, sich gegen betrügerische Schadenersatzklagen zu schützen, durch die ihnen eine übermäßige, schwer feststell- und berechenbare Ersatzpflicht aufgebürdet würde, die ihre wirtschaftliche Tätigkeit gefährden oder sogar zum Erliegen bringen könnte.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung
BGH vom 9.9.2021, X ZR 94/20 - Sekundäre Darlegungslast des Luftfahrtunternehmens für große Ankunftsverspätung
MDR 2022, 18

Aufsatz
Die Entwicklung des Reiserechts der Luftbeförderung einschließlich der EU-Fluggastrechte-VO im Jahre 2020
Führich, MDR 2021, 909

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