Haftungsfragen im Fall der sog. "halben Vorfahrt"
LG Saarbrücken v. 10.11.2023, 13 S 30/23
Der Sachverhalt:
Die Klägerin war mit ihrem PKW in Fahrtrichtung Ortsmitte unterwegs. Die Beklagte zu 1) befuhr die gleiche Straße in entgegengesetzter Richtung mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten PKW. Sie beabsichtigte, nach links abzubiegen, wobei sie vorkollisionär die linke Fahrbahnseite befuhr. Im Bereich der Einmündung kam es zur Kollision der beiden Fahrzeuge. Die Klägerin verlangte von der Beklagten zu 2) 3.703 € sowie Gebühren für die rechtsanwaltliche Tätigkeit i.H.v. 453 €. Die Beklagte zu 2) regulierte die Unfallschäden der Klägerin - ohne vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten - unter Annahme einer Mithaftung der Klägerin zu 25 % i.H.v. 2.777 €.
Erstinstanzlich hat die Klägerin die Beklagten auf Zahlung von restlichem Schadensersatz i.H.v. 925 € und von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 453 € in Anspruch genommen. Hierzu hat sie geltend gemacht, die Beklagten hafteten wegen der Missachtung des Vorfahrtsrechts der Klägerin durch die Beklagte zu 1) allein. Es sei nicht zutreffend, dass die Klägerin ausschließlich nach rechts geschaut habe. Sie habe noch gebremst, den Unfall jedoch nicht mehr vermeiden können, da sich das Fahrzeug der Beklagten zu 1) überraschend plötzlich vor ihr befunden habe. Die Beklagte zu 1) habe sich indes auch nicht richtig zum Abbiegen nach links eingeordnet und auch deshalb die Kollision alleine zu verantworten.
Das AG hat der Klage lediglich i.H.v. 367 € stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin hätte nach den Grundsätzen zur sog. "halben Vorfahrt" vor der Einfahrt in den Einmündungsbereich im Rahmen der Grundregel des § 1 StVO zu prüfen gehabt, ob von links kommende Fahrzeuge ihre Vorfahrt beachten würden. Auf die Berufung der Klägerin hat das LG das Urteil abgeändert und der Klage im vollen Umfang stattgegeben.
Die Gründe:
Das AG hat zu Unrecht angenommen, dass der Klägerin ein unfallursächlicher Pflichtverstoß zur Last gelegt werden könne.
In einem Fall der sog. "halben Vorfahrt", in dem ein Verkehrsteilnehmer mangels besonderer Beschilderung gem. § 8 Abs. 2 Satz 1 StVO gegenüber den von rechts kommenden Verkehrsteilnehmern wartepflichtig, gegenüber den von links kommenden Verkehrsteilnehmern jedoch vorfahrtsberechtigt ist, darf er grundsätzlich darauf vertrauen, dass der ihm gegenüber Wartepflichtige, von links kommende Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachtet. Allerdings können den Vorfahrtsberechtigten in Fällen der "halben Vorfahrt" aus anderem Grunde auch Schutzpflichten zugunsten des Wartepflichtigen treffen. Diese Verkehrssituation dient nicht nur dem Schutz eines von rechts kommenden Vorfahrtberechtigten, sondern dem Schutz aller Verkehrsteilnehmer, also auch dem eigentlich von links kommenden.
Hieraus folgt jedoch nicht, dass der Vorfahrtsberechtigte bei "halber Vorfahrt" regelmäßig mithaftet; diesem muss vielmehr ein unfallursächlicher Pflichtverstoß zur Last gelegt werden können. Keine zur Mithaftung führende Sorgfaltspflichtverletzung stellt es im Hinblick auf den Vertrauensgrundsatz dar, wenn der Vorfahrtsberechtigte nur durch eine ständige Blickrichtung nach links den Unfall noch durch ein eigenes Bremsen oder Ausweichen hätte vermeiden können, in der Annäherung an die Kreuzung den von links kommenden Verkehr jedoch nicht beobachtet hat, und es dann zur Kollision gekommen ist.
Infolgedessen konnte selbst den Beklagtenvortrag, die Klägerin habe ununterbrochen nach rechts geschaut, als wahr unterstellt, der Klägerin kein unfallursächlicher Pflichtverstoß angelastet werden. Verschärfend kam - was das Erstgericht in seiner Haftungsabwägung übersehen hatte - ein Verkehrsverstoß der Beklagten zu 1) nach § 2 Abs. 2 StVO ("Rechtsfahrgebot") hinzu. Lassen sich somit in die Haftungsabwägung lediglich Verstöße der Beklagten zu 1) - maßgeblich der Vorfahrtsverstoß - einstellen, tritt die Betriebsgefahr der vorfahrtsberechtigten Klägerin auch in Fällen der "halben Vorfahrt" regelmäßig - so auch hier - zurück, so dass die Beklagten für die Unfallfolgen allein haften.
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Die Klägerin war mit ihrem PKW in Fahrtrichtung Ortsmitte unterwegs. Die Beklagte zu 1) befuhr die gleiche Straße in entgegengesetzter Richtung mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten PKW. Sie beabsichtigte, nach links abzubiegen, wobei sie vorkollisionär die linke Fahrbahnseite befuhr. Im Bereich der Einmündung kam es zur Kollision der beiden Fahrzeuge. Die Klägerin verlangte von der Beklagten zu 2) 3.703 € sowie Gebühren für die rechtsanwaltliche Tätigkeit i.H.v. 453 €. Die Beklagte zu 2) regulierte die Unfallschäden der Klägerin - ohne vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten - unter Annahme einer Mithaftung der Klägerin zu 25 % i.H.v. 2.777 €.
Erstinstanzlich hat die Klägerin die Beklagten auf Zahlung von restlichem Schadensersatz i.H.v. 925 € und von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 453 € in Anspruch genommen. Hierzu hat sie geltend gemacht, die Beklagten hafteten wegen der Missachtung des Vorfahrtsrechts der Klägerin durch die Beklagte zu 1) allein. Es sei nicht zutreffend, dass die Klägerin ausschließlich nach rechts geschaut habe. Sie habe noch gebremst, den Unfall jedoch nicht mehr vermeiden können, da sich das Fahrzeug der Beklagten zu 1) überraschend plötzlich vor ihr befunden habe. Die Beklagte zu 1) habe sich indes auch nicht richtig zum Abbiegen nach links eingeordnet und auch deshalb die Kollision alleine zu verantworten.
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In einem Fall der sog. "halben Vorfahrt", in dem ein Verkehrsteilnehmer mangels besonderer Beschilderung gem. § 8 Abs. 2 Satz 1 StVO gegenüber den von rechts kommenden Verkehrsteilnehmern wartepflichtig, gegenüber den von links kommenden Verkehrsteilnehmern jedoch vorfahrtsberechtigt ist, darf er grundsätzlich darauf vertrauen, dass der ihm gegenüber Wartepflichtige, von links kommende Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachtet. Allerdings können den Vorfahrtsberechtigten in Fällen der "halben Vorfahrt" aus anderem Grunde auch Schutzpflichten zugunsten des Wartepflichtigen treffen. Diese Verkehrssituation dient nicht nur dem Schutz eines von rechts kommenden Vorfahrtberechtigten, sondern dem Schutz aller Verkehrsteilnehmer, also auch dem eigentlich von links kommenden.
Hieraus folgt jedoch nicht, dass der Vorfahrtsberechtigte bei "halber Vorfahrt" regelmäßig mithaftet; diesem muss vielmehr ein unfallursächlicher Pflichtverstoß zur Last gelegt werden können. Keine zur Mithaftung führende Sorgfaltspflichtverletzung stellt es im Hinblick auf den Vertrauensgrundsatz dar, wenn der Vorfahrtsberechtigte nur durch eine ständige Blickrichtung nach links den Unfall noch durch ein eigenes Bremsen oder Ausweichen hätte vermeiden können, in der Annäherung an die Kreuzung den von links kommenden Verkehr jedoch nicht beobachtet hat, und es dann zur Kollision gekommen ist.
Infolgedessen konnte selbst den Beklagtenvortrag, die Klägerin habe ununterbrochen nach rechts geschaut, als wahr unterstellt, der Klägerin kein unfallursächlicher Pflichtverstoß angelastet werden. Verschärfend kam - was das Erstgericht in seiner Haftungsabwägung übersehen hatte - ein Verkehrsverstoß der Beklagten zu 1) nach § 2 Abs. 2 StVO ("Rechtsfahrgebot") hinzu. Lassen sich somit in die Haftungsabwägung lediglich Verstöße der Beklagten zu 1) - maßgeblich der Vorfahrtsverstoß - einstellen, tritt die Betriebsgefahr der vorfahrtsberechtigten Klägerin auch in Fällen der "halben Vorfahrt" regelmäßig - so auch hier - zurück, so dass die Beklagten für die Unfallfolgen allein haften.
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