Kindschaftssache: Vorrang- und Beschleunigungsgebot während der Corona-Pandemie
KG Berlin v. 25.6.2020 - 17 WF 1028/20Die Eltern, deren Ehe mittlerweile geschieden ist, hatten sich im November 2011 getrennt. Seit April 2012 haben sie zahlreiche gerichtliche Verfahren über den Umgang des Vaters mit den Kindern und die elterliche Sorge geführt. Das AG Schöneberg hat mit Beschluss vom 9.3.2017 (89 F 40/16) den Umgang des Vaters mit den Kindern bis zum 31.12.2018 ausgeschlossen. Das KG hat mit Beschluss vom 7.12.2018 (13 UF 83/17) die dagegen gerichtete Beschwerde des Vaters zurückgewiesen und den Umgang weiter bis zum 31.12.2019 ausgeschlossen. Für die Zeit ab 01.01.2020 hat es den Umgang im Wesentlichen dahingehend geregelt, dass begleitete Umgänge stattfinden sollen, wenn der Träger der Umgangsbegleitung zuvor mindestens vier Gespräche mit den Kindern und acht Gespräche mit den Eltern geführt hat.
Mit Antrag vom 20.1.2020 zum Geschäftszeichen hat der Vater ein Vermittlungsverfahren eingeleitet, damit die Festlegungen des Beschlusses des KG schnell umgesetzt werden. Daraufhin hat das AG mit Verfügung vom 23.1.2020 das hiesige Verfahren anlegen lassen und mit Verfügung vom 28.1.2020 einen Anhörungstermin für den 20.2.2020 anberaumt. Am 20.2.2020 hat das AG die Eltern und das Jugendamt angehört. Das Vermittlungsverfahren ist gescheitert.
Das AG hat daraufhin das Verfahren als Umgangsabänderungsverfahren fortgeführt. Der Vater begehrt Umgang ohne vorausgehende Elterngespräche. Die Mutter begehrt eine weitere Umgangsaussetzung. Mit Beschluss vom 21.2.2020 hat das AG einen Verfahrensbeistand bestellt. Am 27.3.2020 ist der Bericht des Verfahrensbeistandes vom 24.3.2020 beim AG eingegangen. Mit Verfügung vom 28.4.2020 hat die Abteilungsrichterin die Versendung des Berichts und die Ladung der Kinder und des Verfahrensbeistandes zur Kindesanhörung am 16.6.2020 verfügt.
Mit Schreiben vom 13.5.2020 hat der Vater die Verfahrensdauer gerügt. Die bisherige Verfahrensdauer entspreche nicht dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot gem. § 155 Abs. 1 FamFG. Das KG hat die Beschleunigungsbeschwerde zurückgewiesen.
Die Gründe:
Die bisherige Verfahrensdauer des familiengerichtlichen Verfahrens widerspricht nicht dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot des § 155 Abs. 1 FamFG.
Eine generelle Festlegung, ab wann ein Verfahren nicht beschleunigt durchgeführt wurde, ist dabei nach Auffassung des Gesetzgebers nicht möglich. Ein Maßstab für diese Frage ist die Orientierung am Kindeswohl, welches das Beschleunigungsgebot sowohl prägt als auch begrenzt, denn Beschleunigung ist kein Selbstzweck, sondern dient dazu, dass die Entscheidung in der Sache nicht durch bloßen Zeitablauf faktisch präjudiziert wird. Diese Gefahr besteht in den in § 155 Abs. 1 FamFG genannten Kindschaftssachen ganz besonders, weil sich während des Verfahrens Bindungs- und Beziehungsverhältnisse - einschließlich eines etwaigen Kontaktabbruchs - verfestigen oder verändern können und eine zu späte gerichtliche Entscheidung sich den geänderten tatsächlichen Bindungen und Beziehungen nur noch beschreibend anpassen, diese aber nicht mehr im Sinne des ursprünglichen Kindeswohls gestalten kann.
Das Beschwerdegericht hat unter Zugrundelegung dieser Faktoren deshalb darüber zu entscheiden, ob die Dauer des bisherigen Verfahrens den Anforderungen des Vorrang- und Beschleunigungsgebotes entspricht, insbesondere ob das Ausgangsgericht die notwendigen verfahrensfördernden Maßnahmen getroffen hat. Dabei ist nicht von dem Maßstab eines idealen Richters auszugehen, sondern es ist anhand des konkreten Einzelfalles ein objektiver Maßstab anzulegen. Während der Corona-Krise hat das Gericht unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls, insbesondere des dem Verfahren zugrunde liegenden Regelungsbedürfnisses einerseits und gesundheitlicher Risiken andererseits, zu entscheiden, wie es das Verfahren gestalten wird
Nach diesen Voraussetzungen entspricht der bisherige Ablauf des vorliegenden familiengerichtlichen Verfahrens den Anforderungen des Vorrang- und Beschleunigungsgebotes des §§ 165 Abs. 2, 155 Abs. 1 FamFG. Das AG hatte das Verfahren unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Risiken der Mitarbeiter des Gerichts durch die Corona-Pandemie und damit auch zum Schutz der übrigen Bevölkerung vor diesen Gefahren gestaltet. Das Gericht befand sich seit dem 19.3.2020 nicht im Normalbetrieb., sondern im Notdienst. Das hat dazu geführt, dass Posteingänge nach Dringlichkeit abgearbeitet wurden. Dass die Abteilungsrichterin den Bericht des Verfahrensbeistandes vor diesem Hintergrund erst am 28.4.2020 und damit einen Monat nach Eingang bearbeitet hat, ist im Hinblick auf das dem hiesigen Verfahren zugrunde liegende Regelungsbedürfnis nicht zu beanstanden.
Verfahrensgegenstand ist zwar der Umgang. Im vorliegenden Fall haben die 12 und 13 Jahre alten Kinder jedoch seit mehr als drei Jahren keinen Umgang mit ihrem Vater. Unter Berücksichtigung dieser Umstände besteht keine Gefahr, dass sich durch eine Verzögerung von einem Monat während des Verfahrens Bindungs- und Beziehungsverhältnisse derart verfestigen oder verändern können, dass eine zu späte gerichtliche Entscheidung sich den geänderten tatsächlichen Bindungen und Beziehungen nur noch beschreibend anpassen, diese aber nicht mehr im Sinne des ursprünglichen Kindeswohls gestalten kann.