21.08.2024

Kommunale Wohnungsunternehmen unterliegen unmittelbarer Grundrechtsbindung

Beim Ausspruch einer Kündigung müssen kommunale Wohnungsunternehmen, insbesondere bei vulnerablen Mietern, die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte und etwaige Grundrechtsbeeinträchtigungen für den Mieter aufgrund der Vertragsbeendigung berücksichtigen. Sie müssen zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor Ausspruch der Kündigung mildere Maßnahmen zur Vermeidung der Kündigung erwägen und gegebenenfalls ergreifen.

AG Hamburg-Wandsbek v. 27.7.2024 - 711 C 17/24
Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist das größte kommunale Wohnungsunternehmen Deutschlands. Sie ist auch die Vermieterin der Beklagten. Diese leidet an einer paranoiden Schizophrenie, was der Klägerin bekannt ist. Ihre Erkrankung wird seit 2010 ambulant behandelt. Sie äußert sich bei der Beklagten in Form einer inneren Unruhe, die auf einem permanenten Bedrohungsgefühl beruht. Infolge ihrer Erkrankung kam es im Jahr 2023 zu zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten. So fiel die Beklagte regelmäßig, insbesondere in den Abend- und Nachtstunden, durch laute Musik, Geschrei, Gekreische, sowie das Schmeißen und Zertrümmern von Gegenständen auf. Außerdem trat sie ihren Nachbarn gegenüber aggressiv und beleidigend auf. Am 12.7.2023 wurde eine gesetzliche Betreuung für die Beklagte eingerichtet.

Die Klägerin forderte die Beklagte mit Schreiben vom 18.10.2023 dazu auf, dieses Verhalten zu unterlassen. In der Folgezeit kam es zu weiteren Zwischenfällen. Die Beklagte beleidigte Nachbarn unflätig im Treppenhaus. Aufgrund der Vorfälle mahnte die Klägerin die Beklagte mit Schreiben vom 10.11.2023 ab. Kurz darauf beleidigte die Beklagte eine Frau aus einem Nachbarhaus in der gleichen Straße. Daraufhin kündigte die Klägerin der Beklagten mit Schreiben vom 27.11.2023 fristlos und hilfsweise fristgemäß zum 31.8.2024.

Die Beklagte räumte die Wohnung nicht und es kam vielmehr am 16.1.2024 zu einem weiteren Vorfall mit einem anderen Hausbewohner. Am gleichen Tag wurde die Beklagte bis zum 13.3.2024 in einer Klinik untergebracht. Nach ihrer Entlassung wurde sie erneut an eine ambulante Behandlung angebunden. Zudem wurde sie medikamentös eingestellt.

Das AG hat die Räumungsklage abgewiesen.

Die Gründe:
Die Klägerin kann von der Beklagten nicht die Räumung und Herausgabe der streitgegenständlichen Wohnungen gem. § 546 Abs. 1 BGB verlangen. Das Mietverhältnis besteht vielmehr trotz der ausgesprochenen Kündigungen fort.

Ein wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung lag nicht vor. Zwar hatte die Beklagte den Hausfrieden gem. § 569 Abs. 2 BGB mehrmals nachhaltig gestört. Es konnte der Klägerin jedoch unter Abwägung der beiderseitigen Interessen zugemutet werden, das Mietverhältnis fortzusetzen. Bei der Frage der Zumutbarkeit ist das Interesse des Kündigenden an einer sofortigen Beendigung des Vertrages gegen das Interesse des Kündigungsempfängers an dessen Bestand abzuwägen. Da das Überwiegen der Interessen des Kündigenden die sofortige Beendigung des Mietverhältnisses zur Folge hat, ist der maßgebliche Beurteilungszeitpunkt der Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung, mithin der 30.11.2023, anzunehmen. Für die Zumutbarkeit ist das Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen maßgeblich. Erforderlich ist daher eine negative Zukunftsprognose für eine gedeihliche Entwicklung des Vertragsverhältnisses.

Bei der Abwägung sind insbesondere das Ausmaß und die Auswirkungen der Störung des Hausfriedens, sowie die Folgen des Wohnungsverlusts für den Mieter zu berücksichtigen. Wird der Hausfrieden durch das Verhalten eines psychisch kranken Mieters gestört, sind die Belange des Vermieters, des Mieters und der anderen Mieter aufgrund der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte unter Berücksichtigung der Wertentscheidungen des Grundgesetzes und der besonderen Schutzbedürftigkeit des kranken Mieters gegeneinander abzuwägen (vgl. LG Hamburg, Beschl. v. 23.6.2021 - 316 T 24/21; BGH, Urt. v. 9.11.2016 - VIII ZR 73/16). Insoweit ist aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG abzuleiten, dass im nachbarlichen Zusammenleben mit psychisch Erkrankten ein erhöhtes Maß an Toleranzbereitschaft zu fordern ist.

Ausgehend von diesen Grundsätzen überwog hier das Interesse der Beklagten an dem Bestand des Mietverhältnisses gegenüber dem Interesse der Klägerin an einer sofortigen Beendigung des Mietvertrags. Die Nachteile, die die Beklagte durch eine sofortige Beendigung Mietverhältnisses erdulden müsste, sind schwerwiegender als die Nachteile, die für die Klägerin bzw. die anderen Hausbewohner mit dem Bestand des Mietverhältnisses einhergehen. Die Folgen eines Wohnungsverlusts stellen, aufgrund der drohenden Grundrechtsbeeinträchtigungen, einen derart schwerwiegenden persönlichen Härtegrad dar, dass auch im Lichte der erheblichen Pflichtverletzungen der Beklagten das Maß an Toleranzbereitschaft im nachbarlichen Zusammenleben mit psychisch Erkrankten noch nicht überschritten ist.

Zusätzlich war zu berücksichtigen, dass die Klägerin als kommunales Wohnungsunternehmen unmittelbarer Grundrechtsbindung unterliegt und somit in besonderem Maße an das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebunden ist. Beim Ausspruch einer Kündigung müssen kommunale Wohnungsunternehmen, insbesondere bei vulnerablen Mietern, die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte und etwaige Grundrechtsbeeinträchtigungen für den Mieter aufgrund der Vertragsbeendigung berücksichtigen. Sie müssen zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor Ausspruch der Kündigung mildere Maßnahmen zur Vermeidung der Kündigung erwägen und gegebenenfalls ergreifen. Außerdem können sie zur Einschaltung des sozialpsychiatrischen Dienstes und/oder zum Angebot einer Ersatzwohnung verpflichtet sein, um eine nachhaltige Hausfriedensstörung zu beseitigen.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Mieterhöhung; Gutachten trotz Mietspiegel; maßgeblicher Zeitraum der Vergleichsmieten
BGH vom 28.4.2021 - VIII ZR 22/20
Olaf Riecke, MietRB 2021, 193

Aufsatz:
Fünf Jahre "Mietpreisbremse" in Berlin - eine Bestandsaufnahme
Astrid Siegmund, MietRB 2020, 121

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