23.09.2024

Leitung des Tieres durch den Menschen schließt spezifische Tiergefahren nicht grundsätzlich aus

Die Leitung des Tieres durch den Menschen schließt spezifische Tiergefahren nicht zwangsläufig aus. Auch in den Fällen, in denen die menschliche Leitung nur in einem Anstoß für das tierische Verhalten besteht, dieses ausgelöste Verhalten aber mangels physischer Zugriffsmöglichkeit nicht mehr der menschlichen Kontrolle unterliegt, gibt es keinen Grund, eine spezifische Tiergefahr zu verneinen, die sich aus der selbständigen Bewegung des Tieres, seiner Energie und Kraft ergibt.

BGH v. 11.6.2024 - VI ZR 381/23
Der Sachverhalt:
Die Klägerin, ein gesetzlicher Krankenversicherer, nimmt den mittlerweile verstorbenen Beklagten, dessen unbekannte Erben durch einen Nachlasspfleger vertreten werden, aus Tierhalterhaftung aus übergegangenem Recht für Schäden in Anspruch, die ihre Versicherungsnehmerin B erlitten hat.

Der Beklagte war Halter eines Hundes. Am 2.7.2020 ging seine Tochter mit dem Hund auf einem Feldweg spazieren und traf dort die B, die ebenfalls mit ihrem Hund spazieren ging. Auf einem hoch mit Gras bewachsenen Feld rannten die beiden Hunde zu einem Mäuseloch. Der Hund des Beklagten befand sich an einer Schleppleine, die er lose hinter sich herzog. B lief hinterher, um die Hunde von dort zu vertreiben. Als die Tochter des Beklagten dessen Hund zurückrief und dieser daraufhin zu ihr lief, zog sich seine Schleppleine, in die die B unbemerkt geraten war, um deren Bein fest, so dass sie umgerissen wurde. Hierdurch B dadurch eine Fraktur des proximalen Endes der Tibia rechts und musste im Krankenhaus stationär behandelt werden. Der Haftpflichtversicherer des Beklagten lehnte vorgerichtlich eine Regulierung des Schadens ab.

Die Klägerin behauptet, aufgrund des Unfalls habe sie für die Heilbehandlung der B Kosten i.H.v. rd. 12.000 € aufgewandt, und begehrt neben der Zahlung die Feststellung zur Verpflichtung zum Ersatz weiteren Schadens. Der Beklagte war der Ansicht, in dem Unfall habe sich keine typische Tiergefahr verwirklicht, zudem würden Ansprüche der Klägerin an einem weit überwiegenden Mitverschulden der B scheitern.

LG und OLG wiesen die Klage ab. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Mit der Begründung des OLG kann ein Schadensersatzanspruch der Klägerin aus gem. § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X übergegangenem Recht aus § 833 Satz 1 BGB nicht verneint werden. Auf der Basis des vom OLG zugrunde gelegten Sachverhalts sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 833 Satz 1 BGB zu bejahen.

Die in § 833 Satz 1 BGB geregelte Gefährdungshaftung des Tierhalters setzt voraus, dass durch ein Tier ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt wird und sich in dem Schadensereignis eine "spezifische" oder "typische" Tiergefahr desjenigen Tieres verwirklicht hat, dessen Halter in Anspruch genommen werden soll. Letzteres ist dann der Fall, wenn ein der tierischen Natur entsprechendes unberechenbares und selbständiges Verhalten des betreffenden Tieres für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung adäquat ursächlich geworden ist, wobei Mitursächlichkeit - wie sonst auch - ausreicht. Die spezifische Tiergefahr besteht darin, dass der Halter seine Umwelt mit einem lebenden Organismus konfrontiert, dessen Eigenschaften und Verhalten er wegen der "tierischen Eigenwilligkeit" nicht in vollem Umfang kontrollieren kann. Die Tierhalterhaftung ist gleichsam der Preis dafür, dass andere erlaubtermaßen der nur unzulänglich beherrschbaren Tiergefahr ausgesetzt werden. Das Eingehen des erlaubten Risikos wird haftungsrechtlich mit einer Gefährdungshaftung belegt.

An der Verwirklichung der Tiergefahr fehlt es dann, wenn keinerlei eigene Energie des Tieres an dem Geschehen beteiligt ist oder wenn das Tier lediglich der Leitung und dem Willen eines Menschen folgt. Ist letzteres der Fall, so ist ein dabei entstehender Schaden nicht durch das Tier, sondern durch den Menschen verursacht, und eine Haftung aus § 833 BGB kommt nicht in Betracht. Davon kann jedoch nicht ausgegangen werden, wenn ein Tier, z.B. ein Pferd, auf die - unter Umständen fehlerhafte - menschliche Steuerung anders als beabsichtigt reagiert. Denn diese Reaktion des Tieres und die daraus resultierende Gefährdung haben ihren Grund in der Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens.

Geht man davon aus, dass der Halter den lebenden Organismus, dem er seine Umgebung aussetzt, gerade wegen der Lebendigkeit oftmals nicht vollständig kontrollieren kann, ergibt sich, dass die Leitung des Tieres durch den Menschen spezifische Tiergefahren nicht zwangsläufig ausschließt. Auch in den Fällen, in denen wie im Streitfall die menschliche Leitung nur in einem Anstoß für das tierische Verhalten besteht, dieses ausgelöste Verhalten aber mangels physischer Zugriffsmöglichkeit nicht mehr der menschlichen Kontrolle unterliegt, gibt es keinen Grund, eine spezifische Tiergefahr zu verneinen, die sich aus der selbständigen Bewegung des Tieres, seiner Energie und Kraft ergibt. Das Schutzbedürfnis des Opfers besteht gleichermaßen. Allein die Präsenz des Tierhalters oder -führers im Sinne einer Aufsicht kann die Tierhalterhaftung regelmäßig nicht ausschließen.

Danach kann die Haftung des Beklagten nicht mit der Begründung verneint werden, das Tier habe allein auf menschliche Steuerung in der gewünschten Art und Weise reagiert. Auch die Reaktion eines Tieres auf menschliche Steuerung und die daraus resultierende Gefährdung kann ihren Grund in der Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens und/oder der Lebendigkeit haben, für die der Halter den Geschädigten nach § 833 BGB schadlos halten soll. Anders als das OLG meint, ist der Hund des Beklagten nicht lediglich der Leitung und dem Willen der Tochter des Beklagten gefolgt, als sie ihn nach dem Wegjagen vom Mäuseloch durch die B zu sich rief. Zwar hat dieser Ruf das Loslaufen des Tieres ausgelöst, während seiner Fortbewegung und beim Umreißen der B stand er aber nicht unter der Leitung eines Menschen.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | BGB
§ 833 Haftung des Tierhalters
Wilhelmi in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023

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