"Lückenrechtsprechung" nicht übertragbar auf den Fall des Vorbeifahrens an einem vor einer Grundstückseinfahrt stehenden Lkw
BGH v. 4.6.2024 - VI ZR 374/23
Der Sachverhalt:
Der Kläger begehrt von den Beklagten den Ersatz von Sachschaden nach einem Verkehrsunfall. Der Beklagte zu 1 befuhr mit einem Pkw eine in beide Fahrtrichtungen jeweils einspurige Straße. Unmittelbar vor der Ein- und Ausfahrt zu einem Unternehmensgelände befand sich in Fahrtrichtung des Beklagten zu 1 ein Lkw am rechten Fahrbahnrand. Der Beklagte zu 1 fuhr, da kein Gegenverkehr nahte, unter teilweiser Mitbenutzung der Gegenfahrbahn links an dem Lkw vorbei. Rechts neben der Fahrbahn in Fahrtrichtung des Beklagten zu 1 befanden sich Längsparkplätze. Der Kläger hatte mit seinem Pkw zunächst auf einem dieser Parkplätze vor der Firmenzufahrt geparkt und beabsichtigte, auf die gegenüberliegende Seite umzuparken. Auf der Höhe der Firmenzufahrt kam es zur Kollision der beiden Fahrzeuge, wobei sich jedenfalls das Fahrzeug des Beklagten zu 1 in Bewegung befand.
Das LG gab der Klage auf Grundlage einer Mitverschuldensquote von 75 % zu Lasten des Klägers teilweise statt. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG das Urteil des LG abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen; die Berufung des Klägers hat es zurückgewiesen.
Der BGH hat die dagegen eingelegte Revision des Klägers zurückgewiesen.
Die Gründe:
Das Berufungsgericht hat den vom Kläger geltend gemachten Anspruch aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG frei von Rechtsfehlern verneint. Zu Recht hat das Berufungsgericht dem Kläger einen Verstoß gegen § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO zur Last gelegt.
Die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge haben gegenüber dem vom rechten Fahrbahnrand bzw. einer Zufahrt an- und auf die Straße einfahrenden Verkehr Vorrang. Auf diesen Vorrang gegenüber dem an- und einfahrenden Verkehr dürfen die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge vertrauen. Der An- bzw. Einfahrende hat sich darauf einzustellen, dass der ihm gegenüber vorrangig Berechtigte in diesem Sinne von seinem Recht Gebrauch macht.
Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der Kläger von seinem ursprünglichen Längsparkplatz am rechten Fahrbahnrand teilweise über den Gehweg rechts an dem in zweiter Reihe stehenden Lkw vorbei in den Bereich der Firmenzufahrt gefahren und von dort - also hinter dem Lkw - auf die Straße gefahren ist, um zu wenden. Hierbei ist er mit dem Beklagten zu 1 in dessen Fahrbahn kollidiert, der soeben auf der Straße den Lkw links umfahren hatte. Die hierin liegende Verletzung des Vorfahrtsrechts des Beklagten zu 1 durch den Kläger indiziert nach den Regeln des Anscheinsbeweises dessen Verschulden.
Dagegen fällt dem Beklagten zu 1 kein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot aus § 1 Abs. 2 StVO beim Wiedereinscheren nach dem Umfahren des Lkw zur Last. Zwar hat der fließende Verkehr trotz seines grundsätzlichen Vorrangs auf den Ein- oder Anfahrenden im Rahmen des § 1 StVO Rücksicht zu nehmen und eine mäßige Behinderung hinzunehmen. Doch setzt dies voraus, dass der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer konkrete Anzeichen dafür hat, dass seine Vorfahrt missachtet werden könnte. Im Streitfall ließ sich nicht feststellen, dass der Beklagte zu 1 solche konkreten Anzeichen für eine Vorfahrtsmissachtung durch den Kläger gehabt hätte.
Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung der Revision auch nicht unter dem Gesichtspunkt der sogenannten Lückenfälle. Nach der sogenannten Lückenrechtsprechung darf ein vorfahrtsberechtigter Verkehrsteilnehmer beim Überholen einer Fahrzeugkolonne nicht uneingeschränkt auf die Achtung seines Vorrangs vertrauen. Vielmehr hat er, wenn er an einer zum Stillstand gekommenen Fahrzeugkolonne vorbeifährt, bei Annäherung an eine Kreuzung oder Einmündung auf größere Lücken in der Kolonne zu achten und sich darauf einzustellen, dass diese Lücken vom Querverkehr benutzt werden.
Diese Rechtsprechung ist auf den dem Streitfall zugrundeliegenden Sachverhalt nicht übertragbar. Die Berechtigung der Lückenrechtsprechung in Kolonnenfällen liegt darin, dass der vorfahrtsberechtigte, die Kolonne überholende Verkehrsteilnehmer gerade durch das Stocken der Kolonne und die Lückenbildung konkreten Anlass hat, besonders besonnen und rücksichtsvoll zu fahren. Die Lückenrechtsprechung ist folglich keine Sonderrechtsprechung, sondern lediglich ein Anwendungsfall für den Grundsatz, dass der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer seinen Vorrang nicht erzwingen darf, wenn er konkrete Anzeichen dafür hat, dass seine Vorfahrt missachtet werden könnte.
Im Streitfall hatte der Beklagte zu 1, der nicht eine ins Stocken geratene Kolonne überholt, sondern lediglich einen in zweiter Reihe stehenden einzelnen Lkw umfahren hat, derartige Anzeichen nicht. Der Lkw ist nach den tatrichterlichen Feststellungen auch nicht erst wegen des einfahrenden Klägers zum Stehen gekommen, sondern stand bereits zuvor und wurde seinerseits zunächst - rechts - vom Kläger umfahren. Allein der Umstand eines in zweiter Reihe stehenden Lkw und einer dahinter liegenden Firmenzufahrt stellt das Recht des vorfahrtsberechtigten Teilnehmers des fließenden Verkehrs, auf seinen Vorrang zu vertrauen, nach der grundsätzlichen Wertung der § 10 Satz 1 und § 9 Abs. 5 StVO aber nicht in Frage.
Unter den Umständen des Streitfalles ist es daher rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht die Betriebsgefahr des Pkw des vorfahrtsberechtigten Beklagten zu 1 bei der gemäß § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG vorzunehmenden Abwägung hat zurücktreten lassen.
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BGH online
Der Kläger begehrt von den Beklagten den Ersatz von Sachschaden nach einem Verkehrsunfall. Der Beklagte zu 1 befuhr mit einem Pkw eine in beide Fahrtrichtungen jeweils einspurige Straße. Unmittelbar vor der Ein- und Ausfahrt zu einem Unternehmensgelände befand sich in Fahrtrichtung des Beklagten zu 1 ein Lkw am rechten Fahrbahnrand. Der Beklagte zu 1 fuhr, da kein Gegenverkehr nahte, unter teilweiser Mitbenutzung der Gegenfahrbahn links an dem Lkw vorbei. Rechts neben der Fahrbahn in Fahrtrichtung des Beklagten zu 1 befanden sich Längsparkplätze. Der Kläger hatte mit seinem Pkw zunächst auf einem dieser Parkplätze vor der Firmenzufahrt geparkt und beabsichtigte, auf die gegenüberliegende Seite umzuparken. Auf der Höhe der Firmenzufahrt kam es zur Kollision der beiden Fahrzeuge, wobei sich jedenfalls das Fahrzeug des Beklagten zu 1 in Bewegung befand.
Das LG gab der Klage auf Grundlage einer Mitverschuldensquote von 75 % zu Lasten des Klägers teilweise statt. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG das Urteil des LG abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen; die Berufung des Klägers hat es zurückgewiesen.
Der BGH hat die dagegen eingelegte Revision des Klägers zurückgewiesen.
Die Gründe:
Das Berufungsgericht hat den vom Kläger geltend gemachten Anspruch aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG frei von Rechtsfehlern verneint. Zu Recht hat das Berufungsgericht dem Kläger einen Verstoß gegen § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO zur Last gelegt.
Die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge haben gegenüber dem vom rechten Fahrbahnrand bzw. einer Zufahrt an- und auf die Straße einfahrenden Verkehr Vorrang. Auf diesen Vorrang gegenüber dem an- und einfahrenden Verkehr dürfen die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge vertrauen. Der An- bzw. Einfahrende hat sich darauf einzustellen, dass der ihm gegenüber vorrangig Berechtigte in diesem Sinne von seinem Recht Gebrauch macht.
Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der Kläger von seinem ursprünglichen Längsparkplatz am rechten Fahrbahnrand teilweise über den Gehweg rechts an dem in zweiter Reihe stehenden Lkw vorbei in den Bereich der Firmenzufahrt gefahren und von dort - also hinter dem Lkw - auf die Straße gefahren ist, um zu wenden. Hierbei ist er mit dem Beklagten zu 1 in dessen Fahrbahn kollidiert, der soeben auf der Straße den Lkw links umfahren hatte. Die hierin liegende Verletzung des Vorfahrtsrechts des Beklagten zu 1 durch den Kläger indiziert nach den Regeln des Anscheinsbeweises dessen Verschulden.
Dagegen fällt dem Beklagten zu 1 kein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot aus § 1 Abs. 2 StVO beim Wiedereinscheren nach dem Umfahren des Lkw zur Last. Zwar hat der fließende Verkehr trotz seines grundsätzlichen Vorrangs auf den Ein- oder Anfahrenden im Rahmen des § 1 StVO Rücksicht zu nehmen und eine mäßige Behinderung hinzunehmen. Doch setzt dies voraus, dass der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer konkrete Anzeichen dafür hat, dass seine Vorfahrt missachtet werden könnte. Im Streitfall ließ sich nicht feststellen, dass der Beklagte zu 1 solche konkreten Anzeichen für eine Vorfahrtsmissachtung durch den Kläger gehabt hätte.
Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung der Revision auch nicht unter dem Gesichtspunkt der sogenannten Lückenfälle. Nach der sogenannten Lückenrechtsprechung darf ein vorfahrtsberechtigter Verkehrsteilnehmer beim Überholen einer Fahrzeugkolonne nicht uneingeschränkt auf die Achtung seines Vorrangs vertrauen. Vielmehr hat er, wenn er an einer zum Stillstand gekommenen Fahrzeugkolonne vorbeifährt, bei Annäherung an eine Kreuzung oder Einmündung auf größere Lücken in der Kolonne zu achten und sich darauf einzustellen, dass diese Lücken vom Querverkehr benutzt werden.
Diese Rechtsprechung ist auf den dem Streitfall zugrundeliegenden Sachverhalt nicht übertragbar. Die Berechtigung der Lückenrechtsprechung in Kolonnenfällen liegt darin, dass der vorfahrtsberechtigte, die Kolonne überholende Verkehrsteilnehmer gerade durch das Stocken der Kolonne und die Lückenbildung konkreten Anlass hat, besonders besonnen und rücksichtsvoll zu fahren. Die Lückenrechtsprechung ist folglich keine Sonderrechtsprechung, sondern lediglich ein Anwendungsfall für den Grundsatz, dass der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer seinen Vorrang nicht erzwingen darf, wenn er konkrete Anzeichen dafür hat, dass seine Vorfahrt missachtet werden könnte.
Im Streitfall hatte der Beklagte zu 1, der nicht eine ins Stocken geratene Kolonne überholt, sondern lediglich einen in zweiter Reihe stehenden einzelnen Lkw umfahren hat, derartige Anzeichen nicht. Der Lkw ist nach den tatrichterlichen Feststellungen auch nicht erst wegen des einfahrenden Klägers zum Stehen gekommen, sondern stand bereits zuvor und wurde seinerseits zunächst - rechts - vom Kläger umfahren. Allein der Umstand eines in zweiter Reihe stehenden Lkw und einer dahinter liegenden Firmenzufahrt stellt das Recht des vorfahrtsberechtigten Teilnehmers des fließenden Verkehrs, auf seinen Vorrang zu vertrauen, nach der grundsätzlichen Wertung der § 10 Satz 1 und § 9 Abs. 5 StVO aber nicht in Frage.
Unter den Umständen des Streitfalles ist es daher rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht die Betriebsgefahr des Pkw des vorfahrtsberechtigten Beklagten zu 1 bei der gemäß § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG vorzunehmenden Abwägung hat zurücktreten lassen.
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