24.06.2020

Räumungsprozess: Gericht muss Gutachten über Gesundheitszustand des Mieters einholen

Beruft sich der Mieter im Räumungsprozess darauf, die Beendigung des Mietverhältnisses stelle für ihn eine unzumutbare Härte dar und trägt er zu seinen diesbezüglich geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen substantiiert sowie unter Vorlage aussagekräftiger fachärztlicher Atteste vor, verstößt die Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens zum Gesundheitszustand des Mieters sowie zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen seiner - behaupteten - Erkrankungen auf die Lebensführung im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung regelmäßig gegen das Gebot rechtlichen Gehörs.

BGH v. 26.5.2020 - VIII ZR 64/19
Der Sachverhalt:
Die Beklagten sind seit 2009 Mieter einer Fünf-Zimmer-Wohnung des Klägers. Im April 2017 kündigte der Kläger das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs. Die Beklagten widersprachen der Kündigung und beriefen sich auf das Vorliegen von Härtegründen nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB. Ein Umzug sei ihnen aus gesundheitlichen Gründen nicht zuzumuten. Diesbezüglich legten sie mit der Klageerwiderung zahlreiche Atteste über ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie amtliche Bescheinigungen über einen Behinderungsgrad des Ehemanns (GdB) von 70 und der Ehefrau von 40 vor.

Die Atteste des Facharztes für innere Medizin aus Juli 2017 und März 2018 führen aus, dass dem Beklagten ein Umzug aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar und für diesen Fall eine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu befürchten sei. Im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens legten die Beklagten ein Attest des Facharztes für Neurologie aus April 2018 vor. Danach sei der Beklagte aufgrund seiner multiplen Erkrankungen in seiner Belastbarkeit erheblich eingeschränkt. Insbesondere aufgrund einer stark reduzierten kognitiven Anpassungsmöglichkeit könne er sich an Veränderungen in seinem unmittelbaren Lebensumfeld schwer gewöhnen. Eine Veränderung der Wohnsituation hätte eine Verschlimmerung der Anpassungsminderung zur Folge.

Das AG hat hatte von der zunächst beabsichtigten Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage, ob den Beklagten aufgrund der von diesen behaupteten Erkrankungen ein Umzug unzumutbar sei, abgesehen und nach Vernehmung von Zeugen der Räumungsklage - ohne Gewährung einer Räumungsfrist - stattgegeben. Im Berufungsverfahren haben die Beklagten weitere (aktuelle) Atteste vorgelegt. Das LG hat die Berufung zurückgewiesen. Ein schlichtes Unbehagen vor einem Umzug, stelle keinen tauglichen Widerspruchsgrund dar. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat der BGH den Beschluss aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen.

Gründe:
Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs gem. Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Die Vorinstanz durfte das Vorliegen einer Härte gem. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht verneinen, ohne den (angebotenen) Sachverständigenbeweis zu den behaupteten Erkrankungen sowie den gesundheitlichen Auswirkungen eines erzwungenen Umzugs für die Beklagten zu erheben. Nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB kann der Mieter die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn dessen Beendigung für ihn, seine Familie oder seine Haushaltsangehörigen eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist.

Der Tatrichter ist gehalten, sich durch gründliche und sorgfältige Sachverhaltsfeststellung vom Vorliegen der von dem Mieter geltend gemachten Härtegründe und der berechtigten Interessen des Vermieters zu überzeugen. Einen Härtegrund in diesem Sinne stellen - soweit vorliegend von Relevanz - etwa leichtere Erkrankungen des Mieters in Verbindung mit weiteren Umständen (Alter, durch eine lange Mietdauer geprägte Verwurzelung im bisherigen Lebensumfeld), weiter ein gesundheitlicher Zustand, der für sich genommen einen Umzug nicht zulässt oder schließlich die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des (schwer) erkrankten Mieters im Falle eines Wohnungswechsels dar.

Bei der anschließenden Würdigung und Gewichtung der beiderseitigen Belange haben die Tatsacheninstanzen darauf zu achten, sich nicht in Widerspruch zu verfassungsrechtlich verbürgten Rechtspositionen der Mietvertragsparteien zu setzen. Weiter haben sie zu berücksichtigen, dass die Abwägung stets auf der Grundlage der sorgfältig festzustellenden Einzelfallumstände zu erfolgen hat. Macht der Mieter - wie vorliegend - für den Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen daher - beim Fehlen eigener Sachkunde - regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies ein-treten kann.

Trägt der Mieter unter Vorlage eines (aussagekräftigen) Attests des behandelnden Facharztes - vorliegend sogar mehrerer - vor, ihm sei ein Umzug wegen einer schweren Erkrankung nicht zuzumuten, ist im Falle des Bestreitens dieses Vortrags regelmäßig die - beim Fehlen eines entsprechenden Beweisantritts von Amts wegen vorzunehmenden - Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Art, dem Umfang und den konkreten Aus-wirkungen der beschriebenen Erkrankung auf die Lebensführung des betroffenen Mieters im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung erforderlich. Dabei sind nicht nur Feststellungen zu der Art und dem Ausmaß der Erkrankungen sowie den damit konkret einhergehenden gesundheitlichen Einschränkungen, sondern auch zu den konkret feststellbaren oder zumindest zu befürchtenden Auswirkungen eines erzwungenen Wohnungswechsels zu treffen, wobei im letzteren Fall auch die Schwere und der Grad der Wahrscheinlichkeit der zu befürchtenden gesundheitlichen Einschränkungen zu klären ist.
BGH online
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