Schadensteilung bei schuldhafter Notbremsung des Busfahrers
OLG Schleswig-Holstein v. 25.4.2023 - 7 U 125/22
Der Sachverhalt:
Am 17.11.2020 war die damals 82-jährige Klägerin gegen 17:40 Uhr als Passagierin eines Linienbusses der Beklagten zu 2) unterwegs. Der Beklagte zu 1), der seit 30 Jahren als Busfahrer arbeitet, lenkte den Bus. Die Klägerin saß auf einem Zweier-Sitzplatz direkt an einem der Ausgänge und beabsichtigte, an der nächsten Haltestelle auszusteigen. Neben ihr befanden sich lediglich fünf weitere Fahrgäste im Bus. Bei Regen und Dunkelheit fuhr der Linienbus in einen Kreuzungsbereich. Die Klägerin stand auf und positionierte sich am Ausgang. Sie sicherte sich mit einer Hand an der Haltestange ab, während sie in der anderen Hand einen Regenschirm und ihre Handtasche festhielt. Nachdem der Beklagte zu 1) wegen einer Fußgängerin eine scharfe Notbremsung vornehmen musste, stürzte die Klägerin, der es nicht gelang, sich an der Haltestange festhalten.
Gemäß Arztbrief wurden bei ihr eine mediale Schenkelhalsfraktur links (Klassifikation nach Garden: Typ 3), eine Humeruskopfmehrfragmentfraktur links, eine instabile BWK-4-Fraktur sowie eine traumatische Eröffnung der Bursa olecrani links diagnostiziert. Im Rahmen des Krankenhausaufenthalts erfolgten Operationen an Ellenbogen, Schulter und Hüfte. Außerdem wurde die Brustwirbelkörperfraktur intern fixiert. Die Klägerin ist mittlerweile von einer Wohnung in der Seniorenresidenz auf die dortige Pflegestation verlegt worden. Inzwischen ist sie mit Pflegegrad III in der Pflegeabteilung untergebracht.
Die Klägerin hat behauptet, die Verlegung in die Pflegeabteilung sei unfallbedingt notwendig geworden. Sie habe neben den diagnostizierten Schäden auch Dauerschäden erlitten. Vor dem Unfall habe sie viele ehrenamtliche Tätigkeiten ausgeführt und sei immer mindestens 20 Jahre jünger geschätzt worden. Inzwischen sei dies anders, sie können nicht mehr ordentlich gehen und sei auf den Rollstuhl angewiesen.
Das LG hat sämtliche Schadensersatzansprüche der Klägerin gegen die Beklagten als Gesamtschuldner abgewiesen. Es war der Ansicht, der Klägerin sei ein solch erhebliches Mitverschulden anzulasten, dass eine mögliche Haftung der Beklagten hinter ihrem eigenen Verursachungsbeitrag zurücktreten würde. Auf die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das OLG das Urteil abgeändert und eine Haftung der Beklagten dem Grunde nach zu 50 % festgestellt.
Die Gründe:
Das LG hatte das Verschulden des Beklagten zu 1) nicht ausreichend und den Mitverursachungsbeitrag der Klägerin am Unfall zu hoch bewertet.
Die Beklagten traf hier eine Gefährdungshaftung aus §§ 7, 8a, 18 StVG. Diese Betriebsgefahr ist im vorliegenden Fall durch einen Verkehrsverstoß gesteigert worden, denn der Beklagte zu 1) hatte beim Abbiegen zugleich gegen § 37 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1, Satz 2 i. V. m. § 9 Abs. 3 StVO verstoßen. Grünes Ampellicht an einer Kreuzung bedeutet zwar, dass der Verkehrsteilnehmer nach den Regeln des § 9 StVO abbiegen darf. Nach § 9 Abs. 3 StVO muss er jedoch auf Fußgänger besondere Rücksicht nehmen und -wenn nötig- warten.
Gleichwohl trug die Klägerin hier ein erhebliches Mitverschulden. Denn jeder Fahrgast ist grundsätzlich selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische oder zu erwartende Bewegungen eines Busses nicht zu Fall kommt. Im Stadtverkehr muss ein Fahrgast jederzeit mit plötzlichen Bremsmanövern rechnen und das bei der Wahl der Sicherheitsvorkehrungen berücksichtigen. Dazu gehört u.a. auch, bei ausgelöstem Haltesignal solange sitzen zu bleiben, bis der Bus die Haltestelle erreicht hat. Bei stehendem Transport sollten sich Fährgäste im fortgeschrittenen Alter mit beiden Händen an der Haltestange festhalten.
Bei Businsassenunfällen verdrängt zwar grundsätzlich das Eigenverschulden des Fahrgastes, der sich nicht ordnungsgemäß festgehalten hat, vollständig die Gefährdungshaftung aus einfacher Betriebsgefahr. Bei Vorliegen besonderer Umstände kann sich das Eigenverschulden des Fahrgastes jedoch verringern. Eine Schadensteilung 50:50 kommt etwa in Betracht, wenn der Busfahrer - wie hier - schuldhaft eine Notbremsung vorgenommen hat.
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Landesrecht Schleswig-Holstein
Am 17.11.2020 war die damals 82-jährige Klägerin gegen 17:40 Uhr als Passagierin eines Linienbusses der Beklagten zu 2) unterwegs. Der Beklagte zu 1), der seit 30 Jahren als Busfahrer arbeitet, lenkte den Bus. Die Klägerin saß auf einem Zweier-Sitzplatz direkt an einem der Ausgänge und beabsichtigte, an der nächsten Haltestelle auszusteigen. Neben ihr befanden sich lediglich fünf weitere Fahrgäste im Bus. Bei Regen und Dunkelheit fuhr der Linienbus in einen Kreuzungsbereich. Die Klägerin stand auf und positionierte sich am Ausgang. Sie sicherte sich mit einer Hand an der Haltestange ab, während sie in der anderen Hand einen Regenschirm und ihre Handtasche festhielt. Nachdem der Beklagte zu 1) wegen einer Fußgängerin eine scharfe Notbremsung vornehmen musste, stürzte die Klägerin, der es nicht gelang, sich an der Haltestange festhalten.
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Gleichwohl trug die Klägerin hier ein erhebliches Mitverschulden. Denn jeder Fahrgast ist grundsätzlich selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische oder zu erwartende Bewegungen eines Busses nicht zu Fall kommt. Im Stadtverkehr muss ein Fahrgast jederzeit mit plötzlichen Bremsmanövern rechnen und das bei der Wahl der Sicherheitsvorkehrungen berücksichtigen. Dazu gehört u.a. auch, bei ausgelöstem Haltesignal solange sitzen zu bleiben, bis der Bus die Haltestelle erreicht hat. Bei stehendem Transport sollten sich Fährgäste im fortgeschrittenen Alter mit beiden Händen an der Haltestange festhalten.
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