Störendes Verhalten eines Fluggastes als außergewöhnlicher Umstand i.S.d. Verordnung über die Fluggastrechte
EuGH v. 11.6.2020 - C-74/19
Der Sachverhalt:
Der klagende Fluggast und das beklagte Luftfahrtunternehmen Transportes Aéreos Portugueses (TAP) streiten über die Weigerung der Beklagten, dem Kläger, dessen Anschlussflug bei der Ankunft am Endziel erheblich verspätet war, einen Ausgleich zu leisten. Die Beklagte lehnt das Ausgleichszahlungsbegehren mit der Begründung ab, dass die Verspätung des betreffenden Fluges auf das störende Verhalten eines Fluggastes zurückzuführen gewesen sei, das auf dem vorangegangenen, mit demselben Luftfahrzeug durchgeführten Flug stattgefunden und zu einer Umleitung des Luftfahrzeugs geführt habe.
Die Beklagte ist der Ansicht, dass dieser Umstand als "außergewöhnlich" i.S.v. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 über die Fluggastrechte einzustufen sei. Daher sei sie von ihrer in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung vorgesehenen Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen befreit.
Das mit der Sache befasste Bezirksgericht Lissabon hat Zweifel an der rechtlichen Einstufung des diese Verspätung verursachenden Umstands hinsichtlich der Frage, ob sich ein Luftfahrtunternehmen auf einen solchen Umstand berufen kann, wenn er das den betreffenden Flug durchführende Luftfahrzeug zwar betroffen hat, allerdings während eines zuvor durchgeführten Fluges, sowie Zweifel hinsichtlich der Frage, ob das Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat.
Die Gründe:
Ein Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, seinen Fluggästen einen Ausgleich zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung des Fluges bzw. dessen um drei Stunden oder mehr verspätete Ankunft auf "außergewöhnliche Umstände" zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, und es bei Eintritt eines solchen Umstands die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, indem es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass dieser zur Annullierung oder zur großen Verspätung des betreffenden Fluges führt. Dabei dürfen jedoch von dem Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt keine nicht tragbaren Opfer verlangt werden.
Als "außergewöhnliche Umstände" i.S.d. Verordnung über die Fluggastrechte können Vorkommnisse angesehen werden, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind. Solche Umstände können insbesondere bei Sicherheitsrisiken eintreten. Vorliegend betraf das störende Verhalten eines Fluggastes, das zu einer Umleitung des Luftfahrzeugs geführt hat, tatsächlich die Sicherheit des betreffenden Fluges. Das fragliche Verhalten ist nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Beklagten. Zum anderen kann die Beklagte ein solches Verhalten grundsätzlich nicht beherrschen, da erstens das Verhalten eines Fluggastes und seine Reaktionen auf Anweisungen der Besatzung nicht vorhersehbar sind und zweitens an Bord eines Luftfahrzeugs der Kommandant wie die Besatzung nur über begrenzte Mittel verfügen, um ein solches Verhalten zu beherrschen.
Bei dem fraglichen Verhalten kann allerdings nicht angenommen werden, dass es vom betroffenen ausführenden Luftfahrtunternehmen nicht beherrschbar ist, und dass es daher nicht als "außergewöhnlicher Umstand" angesehen werden kann, wenn es sich herausstellt, dass das Unternehmen zum Auftreten des Verhaltens beigetragen hat, oder wenn es aufgrund der Anzeichen für ein solches Verhalten imstande war, es vorauszusehen und angemessene Maßnahmen zu einem Zeitpunkt zu ergreifen, als es dies ohne bedeutende Folgen für den Ablauf des betreffenden Fluges tun konnte. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn das Luftfahrtunternehmen einen Fluggast hat an Bord gehen lassen, der vor oder beim Anbordgehen bereits Verhaltensstörungen gezeigt hatte.
Ferner muss es einem Luftfahrtunternehmen möglich sein, sich zur Befreiung von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste bei großer Verspätung oder Annullierung eines Fluges auf einen "außergewöhnlichen Umstand" zu berufen, der einen vorangegangenen Flug betroffen hat, den es selbst mit demselben Luftfahrzeug durchgeführt hat, sofern ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten dieses den vorangegangenen Flug betreffenden Umstands und der Verspätung oder Annullierung eines späteren Fluges besteht, was das nationale Gericht im Hinblick auf den ihm vorliegenden Sachverhalt und insbesondere unter Berücksichtigung des Betriebsmodus des betreffenden Luftfahrzeugs zu beurteilen hat. Weiterhin muss das Luftfahrtunternehmen bei Eintritt eines "außergewöhnlichen Umstands" alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um eine zumutbare, zufriedenstellende und frühestmögliche anderweitige Beförderung sicherzustellen. Dazu gehört die Suche nach anderen direkten oder indirekten Flügen, die ggf. von anderen Luftfahrtunternehmen, die derselben Fluggesellschaftsallianz angehören oder auch nicht, durchgeführt werden und mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommen.
Folglich kann bei dem Luftfahrtunternehmen nicht davon ausgegangen werden, dass es alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt hat, wenn es sich darauf beschränkt, dem betroffenen Fluggast eine anderweitige Beförderung zu seinem Endziel durch den nächsten Flug anzubieten, den es selbst durchführt und der am Tag nach dem ursprünglich vorgesehenen Ankunftstag am Ziel ankommt, es sei denn, auf einem anderen direkten oder indirekten Flug, der es dem Fluggast ermöglicht, mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens an seinem Endziel anzukommen, ist kein Platz verfügbar oder die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stellt für das Luftfahrtunternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar.
EuGH PM Nr. 68 vom 11.6.2020
Der klagende Fluggast und das beklagte Luftfahrtunternehmen Transportes Aéreos Portugueses (TAP) streiten über die Weigerung der Beklagten, dem Kläger, dessen Anschlussflug bei der Ankunft am Endziel erheblich verspätet war, einen Ausgleich zu leisten. Die Beklagte lehnt das Ausgleichszahlungsbegehren mit der Begründung ab, dass die Verspätung des betreffenden Fluges auf das störende Verhalten eines Fluggastes zurückzuführen gewesen sei, das auf dem vorangegangenen, mit demselben Luftfahrzeug durchgeführten Flug stattgefunden und zu einer Umleitung des Luftfahrzeugs geführt habe.
Die Beklagte ist der Ansicht, dass dieser Umstand als "außergewöhnlich" i.S.v. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 über die Fluggastrechte einzustufen sei. Daher sei sie von ihrer in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung vorgesehenen Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen befreit.
Das mit der Sache befasste Bezirksgericht Lissabon hat Zweifel an der rechtlichen Einstufung des diese Verspätung verursachenden Umstands hinsichtlich der Frage, ob sich ein Luftfahrtunternehmen auf einen solchen Umstand berufen kann, wenn er das den betreffenden Flug durchführende Luftfahrzeug zwar betroffen hat, allerdings während eines zuvor durchgeführten Fluges, sowie Zweifel hinsichtlich der Frage, ob das Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat.
Die Gründe:
Ein Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, seinen Fluggästen einen Ausgleich zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung des Fluges bzw. dessen um drei Stunden oder mehr verspätete Ankunft auf "außergewöhnliche Umstände" zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, und es bei Eintritt eines solchen Umstands die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, indem es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass dieser zur Annullierung oder zur großen Verspätung des betreffenden Fluges führt. Dabei dürfen jedoch von dem Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt keine nicht tragbaren Opfer verlangt werden.
Als "außergewöhnliche Umstände" i.S.d. Verordnung über die Fluggastrechte können Vorkommnisse angesehen werden, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind. Solche Umstände können insbesondere bei Sicherheitsrisiken eintreten. Vorliegend betraf das störende Verhalten eines Fluggastes, das zu einer Umleitung des Luftfahrzeugs geführt hat, tatsächlich die Sicherheit des betreffenden Fluges. Das fragliche Verhalten ist nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Beklagten. Zum anderen kann die Beklagte ein solches Verhalten grundsätzlich nicht beherrschen, da erstens das Verhalten eines Fluggastes und seine Reaktionen auf Anweisungen der Besatzung nicht vorhersehbar sind und zweitens an Bord eines Luftfahrzeugs der Kommandant wie die Besatzung nur über begrenzte Mittel verfügen, um ein solches Verhalten zu beherrschen.
Bei dem fraglichen Verhalten kann allerdings nicht angenommen werden, dass es vom betroffenen ausführenden Luftfahrtunternehmen nicht beherrschbar ist, und dass es daher nicht als "außergewöhnlicher Umstand" angesehen werden kann, wenn es sich herausstellt, dass das Unternehmen zum Auftreten des Verhaltens beigetragen hat, oder wenn es aufgrund der Anzeichen für ein solches Verhalten imstande war, es vorauszusehen und angemessene Maßnahmen zu einem Zeitpunkt zu ergreifen, als es dies ohne bedeutende Folgen für den Ablauf des betreffenden Fluges tun konnte. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn das Luftfahrtunternehmen einen Fluggast hat an Bord gehen lassen, der vor oder beim Anbordgehen bereits Verhaltensstörungen gezeigt hatte.
Ferner muss es einem Luftfahrtunternehmen möglich sein, sich zur Befreiung von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste bei großer Verspätung oder Annullierung eines Fluges auf einen "außergewöhnlichen Umstand" zu berufen, der einen vorangegangenen Flug betroffen hat, den es selbst mit demselben Luftfahrzeug durchgeführt hat, sofern ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten dieses den vorangegangenen Flug betreffenden Umstands und der Verspätung oder Annullierung eines späteren Fluges besteht, was das nationale Gericht im Hinblick auf den ihm vorliegenden Sachverhalt und insbesondere unter Berücksichtigung des Betriebsmodus des betreffenden Luftfahrzeugs zu beurteilen hat. Weiterhin muss das Luftfahrtunternehmen bei Eintritt eines "außergewöhnlichen Umstands" alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um eine zumutbare, zufriedenstellende und frühestmögliche anderweitige Beförderung sicherzustellen. Dazu gehört die Suche nach anderen direkten oder indirekten Flügen, die ggf. von anderen Luftfahrtunternehmen, die derselben Fluggesellschaftsallianz angehören oder auch nicht, durchgeführt werden und mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommen.
Folglich kann bei dem Luftfahrtunternehmen nicht davon ausgegangen werden, dass es alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt hat, wenn es sich darauf beschränkt, dem betroffenen Fluggast eine anderweitige Beförderung zu seinem Endziel durch den nächsten Flug anzubieten, den es selbst durchführt und der am Tag nach dem ursprünglich vorgesehenen Ankunftstag am Ziel ankommt, es sei denn, auf einem anderen direkten oder indirekten Flug, der es dem Fluggast ermöglicht, mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens an seinem Endziel anzukommen, ist kein Platz verfügbar oder die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stellt für das Luftfahrtunternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar.