Streit um Bargeldabbuchungen am Bankautomaten - Beiziehung von Ermittlungs-/Strafakten
BGH v. 16.3.2023 - III ZR 104/21
Der Sachverhalt:
Die Parteien waren miteinander liiert. Im Oktober 2014 war der Kläger für eine Motorradtour in Indien. Dort erlitt er einen Verkehrsunfall, bei dem er sich eine schwere Beinverletzung zuzog. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland befand er sich immer wieder zu stationären Behandlungen in Kliniken. Während seines ersten Krankenhausaufenthaltes hatte der Kläger die Beklagte darum gebeten, für ihn von seinem Konto bei der Postbank an einem Geldautomaten Bargeld abzuheben. Er händigte ihr seine Bankkarte aus und teilte ihr die PIN mit. Die Beklagte hob daraufhin insgesamt 1.500 € in drei Teilbeträgen von jeweils 500 € ab, die sie dem Kläger übergab.
In der Zeit vom 15.11.2014 bis 19.4.2015 erfolgten 49 weitere Auszahlungen vom Konto des Klägers an Geldautomaten mit einem Gesamtbetrag von 43.500 €. Der Kläger behauptete, die Beklagte habe diese Abhebungen vorgenommen. Sie habe jeweils ohne sein Wissen die Bankkarte für sein Postbankkonto an sich genommen, ihm das Geld nicht ausgehändigt. Am 28., 29. und 30.5.2015 hob die Beklagte über einen Geldautomaten jeweils 1.000 € vom Postbankkonto des Klägers ab. Insoweit war - nachdem die Beklagte auf Bildern der Überwachungskamera der Bank zu erkennen war - lediglich streitig, ob die Barabhebung jeweils auf entsprechende Bitte des Klägers geschah und ob die Beklagte ihm das abgehobene Bargeld ausgehändigt hatte. Vom Kläger angestrengte staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen die Beklagte wegen des Verdachts von Vermögensstraftaten im Zusammenhang mit Barabhebungen vom Postbankkonto des Klägers wurden sämtlich nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
Das LG hat die Klage auf Erstattung von insgesamt 46.500 € und die Feststellung, dass die Forderung auf vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung i.S.d. § 302 Nr. 1 InsO beruhte, abgewiesen. Das OLG hat dem Kläger 12.000 € unter dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung zugesprochen und im Übrigen die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Auf die Revision des Klägers hat der BGH das Urteil insoweit aufgehoben, als darin zum Nachteil des Klägers erkannt worden war und die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
Gründe:
Die Tatsache, dass das Berufungsgericht den "Sonderband Bankauskunft" bei der Staatsanwaltschaft nicht beigezogen und verwertet hatte, verletzte in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch des Klägers aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Berufungsurteil beruhte insofern auf dem Verfahrensfehler.
Gem. § 432 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO steht einer Partei grundsätzlich die Möglichkeit zur Verfügung, in einem anhängigen Zivilprozess (Teile von) Ermittlungs- bzw. Strafakten beiziehen zu lassen. Nach § 474 Abs. 1 StPO ist den Gerichten grundsätzlich Akteneinsicht zu gewähren. Grundrechten der anderen Partei oder Dritter, insbesondere deren Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, kann dadurch Rechnung getragen werden, dass das Gericht nach Erhalt der angeforderten Akte unter Berücksichtigung von deren schutzwürdigen Interessen abwägt und so prüft, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Informationen aus ihr im Zivilverfahren verwertet werden können; der Zugang zu den Informationen aus der beigezogenen Akte ist gegebenenfalls angemessen zu beschränken. Ausgeschlossen ist ein Beweisantritt nach § 432 Abs. 1 ZPO, wenn der Beweisführer die Urkunde nach den gesetzlichen Vorschriften ohne Mitwirkung des Gerichts zu beschaffen imstande ist. Dieser Ausschlusstatbestand war hier jedoch nicht erfüllt.
Somit bestanden grundsätzlich keine Hindernisse für eine Aktenbeiziehung nach § 432 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 stopp. Dass die Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO im Verhältnis zur Beklagten nicht vorlagen, war ohne Belang. Maßgeblich für die Vorlagepflicht Dritter gem. § 429 Satz 1 HS. 1, § 432 Abs. 3 ZPO ist, ob die beweisführungsbelastete Partei im Verhältnis zu ihnen einen Vorlegungsanspruch hat. Ob die Gegenpartei in Ermangelung der Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO nicht zur Vorlage einer Urkunde verpflichtet ist, ist demgegenüber in Bezug auf Dritte nicht von Bedeutung.
Die demgegenüber vom Berufungsgericht - und soweit ersichtlich von niemandem sonst - vertretene Auffassung, die Vorschriften der §§ 422 f ZPO würden umgangen, wenn die Staatsanwaltschaft unabhängig von den Voraussetzungen dieser Bestimmungen zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Unterlagen durch das Zivilgericht aufgefordert werden könnte, weswegen die beantragte Anforderung des "Sonderbandes Bankauskunft" abzulehnen sei, findet im Prozessrecht keine Stütze. Die Beschränkung der Vorlagepflicht der nicht beweisbelasteten Partei auf die Fälle der §§ 422 f ZPO ist Folge der Beweisführungslast ihres Gegners. Wäre die diese Last nicht tragende Partei gezwungen, ohne die besonderen Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO in ihrem Besitz befindliche Urkunden vorzulegen, würde die Beweisführungslast zu ihrem Nachteil verkehrt, denn es besteht der Grundsatz, dass keine Partei gehalten ist, dem beweis(führungs)belasteten Gegner für seinen Prozesssieg das Material zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus verfügt.
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Die Parteien waren miteinander liiert. Im Oktober 2014 war der Kläger für eine Motorradtour in Indien. Dort erlitt er einen Verkehrsunfall, bei dem er sich eine schwere Beinverletzung zuzog. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland befand er sich immer wieder zu stationären Behandlungen in Kliniken. Während seines ersten Krankenhausaufenthaltes hatte der Kläger die Beklagte darum gebeten, für ihn von seinem Konto bei der Postbank an einem Geldautomaten Bargeld abzuheben. Er händigte ihr seine Bankkarte aus und teilte ihr die PIN mit. Die Beklagte hob daraufhin insgesamt 1.500 € in drei Teilbeträgen von jeweils 500 € ab, die sie dem Kläger übergab.
In der Zeit vom 15.11.2014 bis 19.4.2015 erfolgten 49 weitere Auszahlungen vom Konto des Klägers an Geldautomaten mit einem Gesamtbetrag von 43.500 €. Der Kläger behauptete, die Beklagte habe diese Abhebungen vorgenommen. Sie habe jeweils ohne sein Wissen die Bankkarte für sein Postbankkonto an sich genommen, ihm das Geld nicht ausgehändigt. Am 28., 29. und 30.5.2015 hob die Beklagte über einen Geldautomaten jeweils 1.000 € vom Postbankkonto des Klägers ab. Insoweit war - nachdem die Beklagte auf Bildern der Überwachungskamera der Bank zu erkennen war - lediglich streitig, ob die Barabhebung jeweils auf entsprechende Bitte des Klägers geschah und ob die Beklagte ihm das abgehobene Bargeld ausgehändigt hatte. Vom Kläger angestrengte staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen die Beklagte wegen des Verdachts von Vermögensstraftaten im Zusammenhang mit Barabhebungen vom Postbankkonto des Klägers wurden sämtlich nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
Das LG hat die Klage auf Erstattung von insgesamt 46.500 € und die Feststellung, dass die Forderung auf vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung i.S.d. § 302 Nr. 1 InsO beruhte, abgewiesen. Das OLG hat dem Kläger 12.000 € unter dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung zugesprochen und im Übrigen die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Auf die Revision des Klägers hat der BGH das Urteil insoweit aufgehoben, als darin zum Nachteil des Klägers erkannt worden war und die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
Gründe:
Die Tatsache, dass das Berufungsgericht den "Sonderband Bankauskunft" bei der Staatsanwaltschaft nicht beigezogen und verwertet hatte, verletzte in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch des Klägers aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Berufungsurteil beruhte insofern auf dem Verfahrensfehler.
Gem. § 432 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO steht einer Partei grundsätzlich die Möglichkeit zur Verfügung, in einem anhängigen Zivilprozess (Teile von) Ermittlungs- bzw. Strafakten beiziehen zu lassen. Nach § 474 Abs. 1 StPO ist den Gerichten grundsätzlich Akteneinsicht zu gewähren. Grundrechten der anderen Partei oder Dritter, insbesondere deren Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, kann dadurch Rechnung getragen werden, dass das Gericht nach Erhalt der angeforderten Akte unter Berücksichtigung von deren schutzwürdigen Interessen abwägt und so prüft, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Informationen aus ihr im Zivilverfahren verwertet werden können; der Zugang zu den Informationen aus der beigezogenen Akte ist gegebenenfalls angemessen zu beschränken. Ausgeschlossen ist ein Beweisantritt nach § 432 Abs. 1 ZPO, wenn der Beweisführer die Urkunde nach den gesetzlichen Vorschriften ohne Mitwirkung des Gerichts zu beschaffen imstande ist. Dieser Ausschlusstatbestand war hier jedoch nicht erfüllt.
Somit bestanden grundsätzlich keine Hindernisse für eine Aktenbeiziehung nach § 432 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 stopp. Dass die Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO im Verhältnis zur Beklagten nicht vorlagen, war ohne Belang. Maßgeblich für die Vorlagepflicht Dritter gem. § 429 Satz 1 HS. 1, § 432 Abs. 3 ZPO ist, ob die beweisführungsbelastete Partei im Verhältnis zu ihnen einen Vorlegungsanspruch hat. Ob die Gegenpartei in Ermangelung der Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO nicht zur Vorlage einer Urkunde verpflichtet ist, ist demgegenüber in Bezug auf Dritte nicht von Bedeutung.
Die demgegenüber vom Berufungsgericht - und soweit ersichtlich von niemandem sonst - vertretene Auffassung, die Vorschriften der §§ 422 f ZPO würden umgangen, wenn die Staatsanwaltschaft unabhängig von den Voraussetzungen dieser Bestimmungen zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Unterlagen durch das Zivilgericht aufgefordert werden könnte, weswegen die beantragte Anforderung des "Sonderbandes Bankauskunft" abzulehnen sei, findet im Prozessrecht keine Stütze. Die Beschränkung der Vorlagepflicht der nicht beweisbelasteten Partei auf die Fälle der §§ 422 f ZPO ist Folge der Beweisführungslast ihres Gegners. Wäre die diese Last nicht tragende Partei gezwungen, ohne die besonderen Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO in ihrem Besitz befindliche Urkunden vorzulegen, würde die Beweisführungslast zu ihrem Nachteil verkehrt, denn es besteht der Grundsatz, dass keine Partei gehalten ist, dem beweis(führungs)belasteten Gegner für seinen Prozesssieg das Material zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus verfügt.
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