29.10.2024

Verdienstausfallschaden bei berechtigtem Vertrauen auf ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit

Der Geschädigte kann einen adäquat kausal unfallbedingten und nach § 842 BGB, § 11 StVG zu ersetzenden Verdienstausfallschaden erleiden, wenn er berechtigterweise auf die ihm ärztlicherseits bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vertraut und deshalb nicht zur Arbeit geht.

BGH v. 8.10.2024 - VI ZR 250/22
Der Sachverhalt:
Der Kläger nimmt die Beklagten - soweit noch relevant - auf Ersatz von Verdienstausfall in Anspruch. Der Kläger arbeitete am 8.5.2019 in einer Waschstraße. Dabei wurde er durch das Fahrzeug der Beklagten zu 1), das bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert war, erfasst und eingeklemmt. Dadurch erlitt der Kläger eine tiefe, klaffende Riss- und Quetschwunde am linken Unterschenkel. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist unstreitig. Der Kläger befand sich aufgrund des Unfalls vom 8.-22.5.2019 und vom 26.-27.8.2019 in stationärer Behandlung. Laut einer fachärztlichen Bescheinigung vom 17.8.2020 war er wegen einer offenen Wunde des Unterschenkels vom 8.5.2019 bis voraussichtlich zum 14.9.2020 arbeitsunfähig.

Mit seiner Klage macht der Kläger die Differenz zwischen seinem letzten mtl. Gehalt und dem Krankengeld i.H.v. rd. 2.257,44 € (16 Monate zu je 141,09 €) nebst anteiliger vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten und Zinsen geltend. Der Kläger meint, er habe sich auf die Krankschreibung seines Arztes verlassen und sein Verhalten danach ausrichten dürfen. Es handele sich um einen Fehler des Arztes, welchen er nicht zu vertreten habe und welcher im Risikobereich des Schädigers liege.

LG und OLG gaben der Klage teilweise statt, verurteilten die Beklagten zur Zahlung von Verdienstausfall i.H.v. 352,73 € nebst Zinsen und anteiligen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten für den Zeitraum nach Ende der Lohnfortzahlung bis zum 5.9.2019 (zweieinhalb Monate) und wiesen die Klage im Übrigen ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Urteil des OLG auf und wies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Mit der vom OLG gegebenen Begründung kann der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfalls im Zeitraum vom 6.9.2019 bis zum 14.9.2020 nicht abgelehnt werden.

Das OLG hat festgestellt, dass der Kläger ab dem 6.9.2019 wieder arbeitsfähig war. Diese Feststellung wird von der Revision nicht angegriffen. Entgegen der Auffassung des OLG kann ein Anspruch des Klägers auf Ersatz des Verdienstausfalls aber nicht nur bestehen, wenn dieser objektiv arbeitsunfähig war, sondern auch dann, wenn er sich als arbeitsunfähig ansehen musste, weil er berechtigterweise auf die ihm ärztlicherseits bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vertraute.

Der geschädigte Arbeitnehmer ist bei seiner Entscheidung, ob er trotz seiner ihm vom Schädiger zugefügten Verletzung seine (verbliebene) Arbeitskraft dem Arbeitgeber anbieten oder hiervon im Interesse seiner Gesundheit absehen soll, in vielen Fällen auf die Einschätzung des ihn behandelnden Arztes angewiesen, insbesondere wenn es um die Frage geht, ob durch die Aufnahme der Arbeitstätigkeit die Heilung nach ärztlicher Prognose verhindert oder verzögert würde. In diese Situation ist er durch die vom Schädiger verursachte Gesundheitsverletzung geraten. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Geschädigte arbeitsrechtlich verpflichtet ist, alles zu unterlassen, was seine Genesung verzögert, und er pflichtwidrig handelt, wenn er den Heilungserfolg durch gesundheitswidriges Verhalten gefährdet. Auch schadensersatzrechtlich obliegt es dem Geschädigten im Rahmen des § 254 BGB regelmäßig, alles zu unterlassen, was seine Gesundung gefährdet bzw. den Heilungserfolg verzögert. Folgte der Geschädigte der Empfehlung des behandelnden Arztes nicht und verschlimmerte sich deshalb seine Verletzung oder dauerte die Heilung länger, könnte er deshalb gegen seine Schadensminderungsobliegenheit verstoßen.

Vor diesem Hintergrund ist es für einen Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfalles nach § 842 BGB, § 11 StVG nicht zwingend erforderlich, dass objektiv eine verletzungsbedingte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit vorgelegen hat, was vorliegend nicht der Fall war. Ein Anspruch kommt auch dann in Betracht, wenn der Geschädigte aufgrund der ärztlichen Beratung von einer solchen Einschränkung ausgehen musste. Der Geschädigte kann einen adäquat kausal unfallbedingten und nach § 842 BGB, § 11 StVG zu ersetzenden Verdienstausfallschaden erleiden, wenn er berechtigterweise auf die ihm ärztlicherseits bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vertraut und deshalb nicht zur Arbeit geht.

Das OLG hat - von seinem Rechtsstandpunkt ausgehend konsequent - keine näheren Feststellungen dazu getroffen, ob der Kläger - ausgehend von dem o.a. Maßstab - berechtigterweise auf die ihm ärztlicherseits bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vertrauen durfte. Daher war das Berufungsurteil insoweit aufzuheben (§ 561 Abs. 1 ZPO) sowie zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

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Wilhelmi in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023

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