Verfassungsbeschwerden zu Zwangsbehandlungen bei Patientenverfügung im Maßregelvollzug teils erfolgreich
BVerfG 8.6.2021, 2 BvR 1314/18 u.a.
Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war aufgrund einer gerichtlichen Anordnung ab Oktober 2015 zunächst einstweilig und nach Abschluss des Strafverfahrens dauerhaft in einem Bezirkskrankenhaus im Maßregelvollzug untergebracht. Bereits im Juni 2005 hatte er in einem Formular erklärt, eine "Patientenverfügung" getroffen zu haben und sie in diesem Dokument zu wiederholen. Er traf insbesondere Anordnungen zu lebensverlängernden Maßnahmen sowie Fremdbluttransfusionen und setzte seine Mutter als bevollmächtigte Vertreterin ein. Am 4.1.2015 hatte er seine Mutter nochmals als Bevollmächtigte eingesetzt, die ihn in allen Angelegenheiten vertreten sollte. In einem weiteren Schriftstück vom 11.1.2015 erklärte der Beschwerdeführer, dass er es jedem Arzt, Pfleger (und anderen Personen) verbiete, ihm Neuroleptika in irgendeiner Form gegen seinen Willen zu verabreichen oder ihn dazu zu drängen.
Im September 2016 beantragte das Bezirkskrankenhaus die Zwangsbehandlung des Beschwerdeführers, weil er an einer Schizophrenie vom paranoid-halluzinatorischen Typ leide. Die Behandlung sei notwendig, um ihn vor irreversiblen hirnorganischen Gesundheitsschäden zu bewahren, die bei weiterer Verzögerung des Behandlungsbeginns mit hoher Wahrscheinlichkeit einträten. Das für das Strafverfahren zuständige LG erteilte auf Grundlage der Art. 6 Abs. 4 Satz 1, Abs. 3, Art. 41 Nr. 3 des Gesetzes über den Vollzug der Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie der einstweiligen Unterbringung des Freistaates Bayern in der Fassung vom 17.7.2015 (BayMRVG a.F.) die Einwilligung, den Beschwerdeführer mit einem atypischen Neuroleptikum zu behandeln. Dieser Beschluss wurde rechtskräftig.
Auf erneuten Antrag des Bezirkskrankenhauses erteilte das LG mit angegriffenen Beschlüssen aus März 2017 und Juni 2017 die Einwilligung in die Fortsetzung der Behandlung bis August 2017. Die eingelegte Beschwerde wies das OLG mit angegriffenem Beschluss im Juli 2017 als unbegründet zurück. Nach anschließend erneut erteilter Verlängerung der Zwangsmedikation des Beschwerdeführers durch das für die Vollstreckung zuständige LG im Dezember 2017 hob das OLG die Entscheidung zunächst auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das LG zurück. Das LG habe das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es davon ausgegangen sei, dass keine Patientenverfügung vorliege.
Das LG erteilte daraufhin mit angegriffenem Beschluss aus März 2018 erneut die Einwilligung zur täglichen Injektion eines Medikaments für weitere zwölf Wochen. Das von dem Beschwerdeführer in der Patientenverfügung vom 11.1.2015 ausgesprochene Verbot, ihm Neuroleptika zu verabreichen, sei berücksichtigt worden, stehe einer Zwangsbehandlung aber nicht entgegen. Die Rechtsbeschwerde verwarf das OLG mit angegriffenem Beschluss im Mai 2018 als offensichtlich unbegründet.
Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung seines Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG) und seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Mittelbar richteten sich die Verfassungsbeschwerden gegen die die Zwangsbehandlung betreffende Regelung des Art. 6 Abs. 3 bis 6 BayMRVG a. F. Das BVerfG hat zwei Verfassungsbeschwerden teilweise stattgegeben.
Die Gründe:
Die Verfassungsbeschwerden haben überwiegend Erfolg.
Jede medizinische Behandlung einer Person gegen ihren natürlichen Willen greift in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ein. Dieses Grundrecht schützt die körperliche Integrität der Person und damit auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht. Zu seinem traditionellen Gehalt gehört der Schutz gegen eine staatliche Zwangsbehandlung. Der in der medizinischen Zwangsbehandlung einer untergebrachten Person mit Neuroleptika liegende Grundrechtseingriff wiegt dabei besonders schwer.
Ungeachtet der besonderen Schwere des mit ihr verbundenen Grundrechtseingriffs kann die Zwangsbehandlung einer untergebrachten Person jedoch gerechtfertigt sein. Zwar stellt der Schutz der Allgemeinheit vor Straftaten der untergebrachten Person keinen geeigneten Rechtfertigungsgrund dar, weil dieser auch dadurch gewährleistet werden kann, dass die Person unbehandelt im Maßregelvollzug verbleibt. Zur Rechtfertigung können jedoch die Grundrechte anderer Personen innerhalb der Maßregelvollzugseinrichtung herangezogen werden. Ein weiterer Verbleib des Betroffenen in der Maßregelvollzugseinrichtung kann diejenigen Personen nicht schützen, die ihm dort begegnen.
Eine Zwangsbehandlung darf als letztes Mittel aber nur eingesetzt werden, wenn mildere Mittel nicht (mehr) in Betracht kommen und eine weniger in die Grundrechte des Betroffenen eingreifende Behandlung mithin aussichtslos ist. Weiterhin ist erforderlich, dass der Betroffene krankheitsbedingt nicht einsichtsfähig ist oder sich nicht einsichtsgemäß verhalten kann und dass der Behandlung der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommene Versuch vorausgegangen ist, seine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erlangen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fordert darüber hinaus, dass die Zwangsbehandlung im Hinblick auf das Behandlungsziel, dem sie dient, Erfolg verspricht und der zu erwartende Nutzen den möglichen Schaden einer Nichtbehandlung sowie die mit der Maßnahme verbundene Beeinträchtigung deutlich überwiegt.
Aus den Grundrechten ergeben sich zudem Anforderungen an das Verfahren. Jedenfalls bei planmäßigen Behandlungen sind diese anzukündigen und überdies ist die Anordnung und Überwachung einer medikamentösen Zwangsbehandlung durch ärztliches Personal erforderlich. Neben Dokumentationspflichten bedarf es einer vorausgehenden Prüfung der Maßnahme durch Dritte in gesicherter Unabhängigkeit von der Unterbringungseinrichtung. Eine Zwangsbehandlung zum Schutz der Grundrechte der untergebrachten Person selbst kann jedoch dann nicht gerechtfertigt werden, wenn diese sie im Zustand der Einsichtsfähigkeit wirksam ausgeschlossen hat.
Sofern Betroffene mit freiem Willen über medizinische Maßnahmen zur Erhaltung oder Besserung der eigenen Gesundheit entscheiden können, besteht keine Schutz- und Hilfsbedürftigkeit, die Voraussetzung für eine staatliche Schutzpflicht ist. Der Einzelne ist grundsätzlich frei, über Eingriffe in seine körperliche Integrität und den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Diese Freiheit ist Ausdruck der persönlichen Autonomie des Einzelnen und als solche durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützt. Dieses Grundrecht verstärkt durch die Inbezugnahme der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG den Gewährleistungsgehalt der körperlichen Unversehrtheit zu einer "Freiheit zur Krankheit" und verleiht ihm dadurch ein besonderes Gewicht.
Die Freiheitsgrundrechte schließen das Recht ein, von der Freiheit einen Gebrauch zu machen, der in den Augen Dritter den wohlverstandenen Interessen des Grundrechtsträgers zuwiderläuft. Das schließt die "Freiheit zur Krankheit" und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind und deren Unterlassen zum dauerhaften Verlust der persönlichen Freiheit führen kann. Hat der Betroffene im Zustand der Einsichtsfähigkeit die Ablehnung einer medizinischen Zwangsbehandlung wirksam verfügt, darf sich der Staat deshalb jedenfalls zum Schutz des Betroffenen im Maßregelvollzug über diese Disposition nicht hinwegsetzen. Die Schutzpflicht des Staates tritt gegenüber dem Betroffenen insoweit zurück.
Dies setzt voraus, dass der Betroffene seine Entscheidung mit freiem Willen und im Bewusstsein über ihre Reichweite getroffen hat. Das ist in einer zweistufigen Prüfung zu beantworten: Die Erklärung muss im Zustand der Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung ihres Aussagegehalts abgegeben worden sein. Auf der zweiten Stufe ist der Inhalt der Erklärung daraufhin auszulegen, ob dieser hinreichend bestimmt und die konkrete Behandlungssituation von der Reichweite der Erklärung umfasst ist. Liegen die Voraussetzungen für eine bindende Erklärung vor, so ist diese Ausdruck des freien Willens des Erklärenden und schließt eine Zwangsbehandlung, die sich zur Rechtfertigung allein auf den Schutz des Betroffenen selbst stützt, auch im Maßregelvollzug aus. Allerdings ist fortlaufend zu überprüfen, ob die jeweiligen Umstände und Krankheitssituationen noch von der Patientenverfügung gedeckt sind.
Die staatliche Pflicht zum Schutz der Grundrechte anderer Personen, die mit dem Betroffenen in der Einrichtung des Maßregelvollzugs in Kontakt treten und daher dessen krankheitsbedingten Übergriffen ausgesetzt sein können, bleibt dabei unberührt. Die autonome Willensentscheidung des Patienten kann nur so weit reichen, wie seine eigenen Rechte betroffen sind. Über Rechte anderer Personen kann er nicht disponieren. Sieht der Gesetzgeber in Wahrnehmung seiner Schutz-pflicht die Maßnahme einer Zwangsbehandlung der untergebrachten Person vor, von der die Gefährdung anderer ausgeht, so ist er dabei an den Grundsatz strikter Verhältnismäßigkeit gebunden.
Diesen Maßstäben genügten die angegriffenen Gerichtsentscheidungen jedoch nicht. Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch die medizinischen Zwangsbehandlungen waren nicht gerechtfertigt. Die gesetzliche Grundlage in Art. 6 Abs. 3 und Abs. 4 BayMRVG a. F. (in Bezug auf die vorläufige Unterbringung i.V.m. Art. 41 Nr. 3 BayMRVG a. F.) genügt zwar den Anforderungen, die das Grundgesetz an die Zulassung von Zwangsbehandlungen stellt. Die angegriffenen gerichtlichen Beschlüsse halten einer verfassungsrechtlichen Prüfung jedoch nicht stand. Die Fachgerichte hatten bei der Auslegung und Anwendung der Vorschrift Bedeutung und Tragweite der Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unzureichend Rechnung getragen.
Die Gerichte haben nicht bedacht, dass das Selbstbestimmungsrecht eine Zwangsbehandlung, die allein dem Schutz des Betroffenen dient, bei einer entgegenstehenden wirksamen Patientenverfügung von vornherein verbietet. Sie haben die Erklärung des Beschwerdeführers vom 11.1.2015 zwar als wirksame Patientenverfügung im Sinne von § 1901a BGB angesehen. Dabei haben sie es allerdings versäumt, zuvor im Wege einer zweistufigen Überprüfung der Erklärung festzustellen, ob der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung einsichtsfähig gewesen ist und ob deren Inhalt die konkrete Behandlungssituation im Maßregelvollzug umfasst.
Die Gerichte haben demgemäß auch nicht auf Rechte Dritter abgestellt, die in der Maßregelvollzugsanstalt womöglich tätlichen Angriffen durch den Beschwerdeführer ausgesetzt wären und deren Schutz einen Eingriff in dessen Grundrechte rechtfertigen könnte. Die Frage, ob die Zwangsbehandlung vorliegend zum Schutz anderer Personen nach Art. 6 Abs. 6 BayMRVG a. F. gerechtfertigt war, ist einer verfassungsgerichtlichen Prüfung somit nicht zugänglich.
BVerfG PM Nr. 66 vom 30.7.2021
Der Beschwerdeführer war aufgrund einer gerichtlichen Anordnung ab Oktober 2015 zunächst einstweilig und nach Abschluss des Strafverfahrens dauerhaft in einem Bezirkskrankenhaus im Maßregelvollzug untergebracht. Bereits im Juni 2005 hatte er in einem Formular erklärt, eine "Patientenverfügung" getroffen zu haben und sie in diesem Dokument zu wiederholen. Er traf insbesondere Anordnungen zu lebensverlängernden Maßnahmen sowie Fremdbluttransfusionen und setzte seine Mutter als bevollmächtigte Vertreterin ein. Am 4.1.2015 hatte er seine Mutter nochmals als Bevollmächtigte eingesetzt, die ihn in allen Angelegenheiten vertreten sollte. In einem weiteren Schriftstück vom 11.1.2015 erklärte der Beschwerdeführer, dass er es jedem Arzt, Pfleger (und anderen Personen) verbiete, ihm Neuroleptika in irgendeiner Form gegen seinen Willen zu verabreichen oder ihn dazu zu drängen.
Im September 2016 beantragte das Bezirkskrankenhaus die Zwangsbehandlung des Beschwerdeführers, weil er an einer Schizophrenie vom paranoid-halluzinatorischen Typ leide. Die Behandlung sei notwendig, um ihn vor irreversiblen hirnorganischen Gesundheitsschäden zu bewahren, die bei weiterer Verzögerung des Behandlungsbeginns mit hoher Wahrscheinlichkeit einträten. Das für das Strafverfahren zuständige LG erteilte auf Grundlage der Art. 6 Abs. 4 Satz 1, Abs. 3, Art. 41 Nr. 3 des Gesetzes über den Vollzug der Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie der einstweiligen Unterbringung des Freistaates Bayern in der Fassung vom 17.7.2015 (BayMRVG a.F.) die Einwilligung, den Beschwerdeführer mit einem atypischen Neuroleptikum zu behandeln. Dieser Beschluss wurde rechtskräftig.
Auf erneuten Antrag des Bezirkskrankenhauses erteilte das LG mit angegriffenen Beschlüssen aus März 2017 und Juni 2017 die Einwilligung in die Fortsetzung der Behandlung bis August 2017. Die eingelegte Beschwerde wies das OLG mit angegriffenem Beschluss im Juli 2017 als unbegründet zurück. Nach anschließend erneut erteilter Verlängerung der Zwangsmedikation des Beschwerdeführers durch das für die Vollstreckung zuständige LG im Dezember 2017 hob das OLG die Entscheidung zunächst auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das LG zurück. Das LG habe das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es davon ausgegangen sei, dass keine Patientenverfügung vorliege.
Das LG erteilte daraufhin mit angegriffenem Beschluss aus März 2018 erneut die Einwilligung zur täglichen Injektion eines Medikaments für weitere zwölf Wochen. Das von dem Beschwerdeführer in der Patientenverfügung vom 11.1.2015 ausgesprochene Verbot, ihm Neuroleptika zu verabreichen, sei berücksichtigt worden, stehe einer Zwangsbehandlung aber nicht entgegen. Die Rechtsbeschwerde verwarf das OLG mit angegriffenem Beschluss im Mai 2018 als offensichtlich unbegründet.
Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung seines Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG) und seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Mittelbar richteten sich die Verfassungsbeschwerden gegen die die Zwangsbehandlung betreffende Regelung des Art. 6 Abs. 3 bis 6 BayMRVG a. F. Das BVerfG hat zwei Verfassungsbeschwerden teilweise stattgegeben.
Die Gründe:
Die Verfassungsbeschwerden haben überwiegend Erfolg.
Jede medizinische Behandlung einer Person gegen ihren natürlichen Willen greift in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ein. Dieses Grundrecht schützt die körperliche Integrität der Person und damit auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht. Zu seinem traditionellen Gehalt gehört der Schutz gegen eine staatliche Zwangsbehandlung. Der in der medizinischen Zwangsbehandlung einer untergebrachten Person mit Neuroleptika liegende Grundrechtseingriff wiegt dabei besonders schwer.
Ungeachtet der besonderen Schwere des mit ihr verbundenen Grundrechtseingriffs kann die Zwangsbehandlung einer untergebrachten Person jedoch gerechtfertigt sein. Zwar stellt der Schutz der Allgemeinheit vor Straftaten der untergebrachten Person keinen geeigneten Rechtfertigungsgrund dar, weil dieser auch dadurch gewährleistet werden kann, dass die Person unbehandelt im Maßregelvollzug verbleibt. Zur Rechtfertigung können jedoch die Grundrechte anderer Personen innerhalb der Maßregelvollzugseinrichtung herangezogen werden. Ein weiterer Verbleib des Betroffenen in der Maßregelvollzugseinrichtung kann diejenigen Personen nicht schützen, die ihm dort begegnen.
Eine Zwangsbehandlung darf als letztes Mittel aber nur eingesetzt werden, wenn mildere Mittel nicht (mehr) in Betracht kommen und eine weniger in die Grundrechte des Betroffenen eingreifende Behandlung mithin aussichtslos ist. Weiterhin ist erforderlich, dass der Betroffene krankheitsbedingt nicht einsichtsfähig ist oder sich nicht einsichtsgemäß verhalten kann und dass der Behandlung der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommene Versuch vorausgegangen ist, seine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erlangen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fordert darüber hinaus, dass die Zwangsbehandlung im Hinblick auf das Behandlungsziel, dem sie dient, Erfolg verspricht und der zu erwartende Nutzen den möglichen Schaden einer Nichtbehandlung sowie die mit der Maßnahme verbundene Beeinträchtigung deutlich überwiegt.
Aus den Grundrechten ergeben sich zudem Anforderungen an das Verfahren. Jedenfalls bei planmäßigen Behandlungen sind diese anzukündigen und überdies ist die Anordnung und Überwachung einer medikamentösen Zwangsbehandlung durch ärztliches Personal erforderlich. Neben Dokumentationspflichten bedarf es einer vorausgehenden Prüfung der Maßnahme durch Dritte in gesicherter Unabhängigkeit von der Unterbringungseinrichtung. Eine Zwangsbehandlung zum Schutz der Grundrechte der untergebrachten Person selbst kann jedoch dann nicht gerechtfertigt werden, wenn diese sie im Zustand der Einsichtsfähigkeit wirksam ausgeschlossen hat.
Sofern Betroffene mit freiem Willen über medizinische Maßnahmen zur Erhaltung oder Besserung der eigenen Gesundheit entscheiden können, besteht keine Schutz- und Hilfsbedürftigkeit, die Voraussetzung für eine staatliche Schutzpflicht ist. Der Einzelne ist grundsätzlich frei, über Eingriffe in seine körperliche Integrität und den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Diese Freiheit ist Ausdruck der persönlichen Autonomie des Einzelnen und als solche durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützt. Dieses Grundrecht verstärkt durch die Inbezugnahme der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG den Gewährleistungsgehalt der körperlichen Unversehrtheit zu einer "Freiheit zur Krankheit" und verleiht ihm dadurch ein besonderes Gewicht.
Die Freiheitsgrundrechte schließen das Recht ein, von der Freiheit einen Gebrauch zu machen, der in den Augen Dritter den wohlverstandenen Interessen des Grundrechtsträgers zuwiderläuft. Das schließt die "Freiheit zur Krankheit" und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind und deren Unterlassen zum dauerhaften Verlust der persönlichen Freiheit führen kann. Hat der Betroffene im Zustand der Einsichtsfähigkeit die Ablehnung einer medizinischen Zwangsbehandlung wirksam verfügt, darf sich der Staat deshalb jedenfalls zum Schutz des Betroffenen im Maßregelvollzug über diese Disposition nicht hinwegsetzen. Die Schutzpflicht des Staates tritt gegenüber dem Betroffenen insoweit zurück.
Dies setzt voraus, dass der Betroffene seine Entscheidung mit freiem Willen und im Bewusstsein über ihre Reichweite getroffen hat. Das ist in einer zweistufigen Prüfung zu beantworten: Die Erklärung muss im Zustand der Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung ihres Aussagegehalts abgegeben worden sein. Auf der zweiten Stufe ist der Inhalt der Erklärung daraufhin auszulegen, ob dieser hinreichend bestimmt und die konkrete Behandlungssituation von der Reichweite der Erklärung umfasst ist. Liegen die Voraussetzungen für eine bindende Erklärung vor, so ist diese Ausdruck des freien Willens des Erklärenden und schließt eine Zwangsbehandlung, die sich zur Rechtfertigung allein auf den Schutz des Betroffenen selbst stützt, auch im Maßregelvollzug aus. Allerdings ist fortlaufend zu überprüfen, ob die jeweiligen Umstände und Krankheitssituationen noch von der Patientenverfügung gedeckt sind.
Die staatliche Pflicht zum Schutz der Grundrechte anderer Personen, die mit dem Betroffenen in der Einrichtung des Maßregelvollzugs in Kontakt treten und daher dessen krankheitsbedingten Übergriffen ausgesetzt sein können, bleibt dabei unberührt. Die autonome Willensentscheidung des Patienten kann nur so weit reichen, wie seine eigenen Rechte betroffen sind. Über Rechte anderer Personen kann er nicht disponieren. Sieht der Gesetzgeber in Wahrnehmung seiner Schutz-pflicht die Maßnahme einer Zwangsbehandlung der untergebrachten Person vor, von der die Gefährdung anderer ausgeht, so ist er dabei an den Grundsatz strikter Verhältnismäßigkeit gebunden.
Diesen Maßstäben genügten die angegriffenen Gerichtsentscheidungen jedoch nicht. Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch die medizinischen Zwangsbehandlungen waren nicht gerechtfertigt. Die gesetzliche Grundlage in Art. 6 Abs. 3 und Abs. 4 BayMRVG a. F. (in Bezug auf die vorläufige Unterbringung i.V.m. Art. 41 Nr. 3 BayMRVG a. F.) genügt zwar den Anforderungen, die das Grundgesetz an die Zulassung von Zwangsbehandlungen stellt. Die angegriffenen gerichtlichen Beschlüsse halten einer verfassungsrechtlichen Prüfung jedoch nicht stand. Die Fachgerichte hatten bei der Auslegung und Anwendung der Vorschrift Bedeutung und Tragweite der Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unzureichend Rechnung getragen.
Die Gerichte haben nicht bedacht, dass das Selbstbestimmungsrecht eine Zwangsbehandlung, die allein dem Schutz des Betroffenen dient, bei einer entgegenstehenden wirksamen Patientenverfügung von vornherein verbietet. Sie haben die Erklärung des Beschwerdeführers vom 11.1.2015 zwar als wirksame Patientenverfügung im Sinne von § 1901a BGB angesehen. Dabei haben sie es allerdings versäumt, zuvor im Wege einer zweistufigen Überprüfung der Erklärung festzustellen, ob der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung einsichtsfähig gewesen ist und ob deren Inhalt die konkrete Behandlungssituation im Maßregelvollzug umfasst.
Die Gerichte haben demgemäß auch nicht auf Rechte Dritter abgestellt, die in der Maßregelvollzugsanstalt womöglich tätlichen Angriffen durch den Beschwerdeführer ausgesetzt wären und deren Schutz einen Eingriff in dessen Grundrechte rechtfertigen könnte. Die Frage, ob die Zwangsbehandlung vorliegend zum Schutz anderer Personen nach Art. 6 Abs. 6 BayMRVG a. F. gerechtfertigt war, ist einer verfassungsgerichtlichen Prüfung somit nicht zugänglich.