Verwaltungsrechtliche Rehabilitierung wegen rechtsstaatswidriger Adoption in der DDR
BVerwG v. 19.10.2023 - 8 C 6.22
Der Sachverhalt:
Der Kläger wurde 1972 geboren. 1975 ließen seine Eltern sich scheiden. Nach dem Tod seiner allein erziehungsberechtigten Mutter im folgenden Jahr beantragte sein Vater die Übertragung des Erziehungsrechts und verwies auf seinen Ausreiseantrag. Beide Anträge wurden abgelehnt; der Kläger wurde in einer Pflegefamilie untergebracht. 1979 beantragten die Pflegeeltern die Adoption des Klägers. Sein aus politischen Gründen inhaftierter und anschließend in die Bundesrepublik entlassener Vater verweigerte die Einwilligung in die Adoption. Diese wurde 1981 gerichtlich ersetzt.
1982 beschloss der zuständige Jugendhilfeausschuss die Annahme des Klägers an Kindes statt durch seine Pflegeeltern. Deren Ehe wurde 1983 geschieden. Das Erziehungsrecht wurde dem Adoptivvater zugesprochen. Dieser wurde 1984 wegen wiederholter Misshandlung des Klägers zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Der Kläger wurde bis zum Erreichen seiner Volljährigkeit in verschiedenen Heimen und Jugendwerkhöfen untergebracht.
2014 beantragte er seine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung wegen seiner Adoption, als deren Folge er heute noch unter schweren Gesundheitsschädigungen leide. Der Beklagte lehnte den Antrag 2019 ab, weil Adoptionen nicht der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung unterlägen.
Das VG gab der Klage auf Rehabilitierung gem. § 1 VwRehaG, hilfsweise - ohne Ansprüche auf Beschädigtenversorgung - nach § 1a VwRehaG, nur hinsichtlich des Hilfsantrags statt. Die Revision des Klägers hatte vor dem BVerwG Erfolg.
Die Gründe:
Der Beklagte ist verpflichtet, gem. § 1 VwRehaG festzustellen, dass die Adoption des Klägers rechtsstaatswidrig war.
Diese Vorschrift ist auf Adoptionen in der ehemaligen DDR anwendbar mit der Maßgabe, dass bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen an die Stelle der Aufhebung der Adoption die Feststellung ihrer Rechtsstaatswidrigkeit tritt. Die im Einigungsvertrag und im BGB enthaltenen familienrechtlichen Vorschriften (Art. 234 § 13 EGBGB i.V.m. §§ 1759 ff. BGB) regeln die Aufhebung von Adoptionen abschließend, stehen jedoch einer Rehabilitierung in sonstiger Weise nicht entgegen. Die Betroffenen von einer solchen Rehabilitierung und den mit ihr verbundenen Versorgungsansprüchen auszuschließen, wäre auch vor dem Gleichbehandlungsgebot nicht zu rechtfertigen.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Rehabilitierung des Klägers liegen vor. Seine Adoption war mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar. Sie verstieß in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit und stellt sich als Willkürakt im Einzelfall dar, weil sie sachfremden Zwecken diente. Nach den Feststellungen des VG war sie nicht - wie nach dem Familienrecht der DDR erforderlich - am Kindeswohl orientiert, sondern diente dazu, den Vater des Klägers zu disziplinieren. Außerdem sollte sie eine gemeinsame Ausreise verhindern. Ihre Folgen wirken noch unmittelbar schwer und unzumutbar fort. Der Kläger hat schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht, dass seine fortwirkenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen wesentlich auf seine Adoption und seine Misshandlungen in der Adoptivfamilie zurückzuführen sind.
Mehr zum Thema:
Rechtsprechung:
Art. 8, 35 EMRK, 6 GG, §§ 1762, 1767 II BGB: Aufhebung einer Volljährigenadoption nach unrechtmäßiger Heimunterbringung in der ehemaligen DDR [m. Anm. d. Red.]
EuGHMR vom 07.09.2021 - INDIVIDUALBESCHWERDE NR. 3443/18
FamRZ 2023, 872
Handbuch:
IV. Adoptionen in der ehemaligen DDR
Müller-Engels in Müller-Engels/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira, Adoptionsrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2020
Aktionsmodul Familienrecht:
Online-Unterhaltsrechner mit jeweils den aktuellen Werten der Düsseldorfer Tabelle. Top Inhalte online: FamRZ und FamRZ-Buchreihe von Gieseking, FamRB von Otto Schmidt, "Gerhardt" von Wolters Kluwer und vielen Standardwerken. Inklusive Selbststudium nach § 15 FAO: Für Fachanwälte mit Beiträgen zum Selbststudium mit Lernerfolgskontrolle und Fortbildungszertifikat. 4 Wochen gratis nutzen!
BVerwG PM Nr. 74 vom 19.10.2023
Der Kläger wurde 1972 geboren. 1975 ließen seine Eltern sich scheiden. Nach dem Tod seiner allein erziehungsberechtigten Mutter im folgenden Jahr beantragte sein Vater die Übertragung des Erziehungsrechts und verwies auf seinen Ausreiseantrag. Beide Anträge wurden abgelehnt; der Kläger wurde in einer Pflegefamilie untergebracht. 1979 beantragten die Pflegeeltern die Adoption des Klägers. Sein aus politischen Gründen inhaftierter und anschließend in die Bundesrepublik entlassener Vater verweigerte die Einwilligung in die Adoption. Diese wurde 1981 gerichtlich ersetzt.
1982 beschloss der zuständige Jugendhilfeausschuss die Annahme des Klägers an Kindes statt durch seine Pflegeeltern. Deren Ehe wurde 1983 geschieden. Das Erziehungsrecht wurde dem Adoptivvater zugesprochen. Dieser wurde 1984 wegen wiederholter Misshandlung des Klägers zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Der Kläger wurde bis zum Erreichen seiner Volljährigkeit in verschiedenen Heimen und Jugendwerkhöfen untergebracht.
2014 beantragte er seine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung wegen seiner Adoption, als deren Folge er heute noch unter schweren Gesundheitsschädigungen leide. Der Beklagte lehnte den Antrag 2019 ab, weil Adoptionen nicht der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung unterlägen.
Das VG gab der Klage auf Rehabilitierung gem. § 1 VwRehaG, hilfsweise - ohne Ansprüche auf Beschädigtenversorgung - nach § 1a VwRehaG, nur hinsichtlich des Hilfsantrags statt. Die Revision des Klägers hatte vor dem BVerwG Erfolg.
Die Gründe:
Der Beklagte ist verpflichtet, gem. § 1 VwRehaG festzustellen, dass die Adoption des Klägers rechtsstaatswidrig war.
Diese Vorschrift ist auf Adoptionen in der ehemaligen DDR anwendbar mit der Maßgabe, dass bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen an die Stelle der Aufhebung der Adoption die Feststellung ihrer Rechtsstaatswidrigkeit tritt. Die im Einigungsvertrag und im BGB enthaltenen familienrechtlichen Vorschriften (Art. 234 § 13 EGBGB i.V.m. §§ 1759 ff. BGB) regeln die Aufhebung von Adoptionen abschließend, stehen jedoch einer Rehabilitierung in sonstiger Weise nicht entgegen. Die Betroffenen von einer solchen Rehabilitierung und den mit ihr verbundenen Versorgungsansprüchen auszuschließen, wäre auch vor dem Gleichbehandlungsgebot nicht zu rechtfertigen.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Rehabilitierung des Klägers liegen vor. Seine Adoption war mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar. Sie verstieß in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit und stellt sich als Willkürakt im Einzelfall dar, weil sie sachfremden Zwecken diente. Nach den Feststellungen des VG war sie nicht - wie nach dem Familienrecht der DDR erforderlich - am Kindeswohl orientiert, sondern diente dazu, den Vater des Klägers zu disziplinieren. Außerdem sollte sie eine gemeinsame Ausreise verhindern. Ihre Folgen wirken noch unmittelbar schwer und unzumutbar fort. Der Kläger hat schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht, dass seine fortwirkenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen wesentlich auf seine Adoption und seine Misshandlungen in der Adoptivfamilie zurückzuführen sind.
Rechtsprechung:
Art. 8, 35 EMRK, 6 GG, §§ 1762, 1767 II BGB: Aufhebung einer Volljährigenadoption nach unrechtmäßiger Heimunterbringung in der ehemaligen DDR [m. Anm. d. Red.]
EuGHMR vom 07.09.2021 - INDIVIDUALBESCHWERDE NR. 3443/18
FamRZ 2023, 872
Handbuch:
IV. Adoptionen in der ehemaligen DDR
Müller-Engels in Müller-Engels/Sieghörtner/Emmerling de Oliveira, Adoptionsrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2020
Aktionsmodul Familienrecht:
Online-Unterhaltsrechner mit jeweils den aktuellen Werten der Düsseldorfer Tabelle. Top Inhalte online: FamRZ und FamRZ-Buchreihe von Gieseking, FamRB von Otto Schmidt, "Gerhardt" von Wolters Kluwer und vielen Standardwerken. Inklusive Selbststudium nach § 15 FAO: Für Fachanwälte mit Beiträgen zum Selbststudium mit Lernerfolgskontrolle und Fortbildungszertifikat. 4 Wochen gratis nutzen!