Vorweggenommene Erbfolge und Nießbrauch: Zum außerordentlichen Kündigungsrechts gem. § 1056 Abs. 2 BGB
BGH v. 12.6.2024 - XII ZR 92/22Der Kläger und die Geschäftsführerin der Beklagten sind Geschwister. Der Kläger begehrt nach beendetem Nießbrauch und nach Kündigung die Herausgabe eines in der Nießbrauchszeit von der Beklagten gemieteten, mit einem Wohnhaus und einem Fabrikgebäude bebauten Grundstücks. Ursprüngliche Eigentümerin des Grundstücks war die Mutter der beiden Geschwister. Diese übertrug das Grundstück im Dezember 2002 "im Wege der vorweggenommenen Erbfolge" an den Kläger und behielt sich den Nießbrauch an dem gesamten Grundstück vor. Nach ihrem Ableben sollte der Nießbrauch an ihren Ehemann, den Vater der beiden Geschwister, übergehen. Der Übertragungsvertrag enthält in Ziffer IV.2. die folgende Bestimmung:
"Der Nießbrauchsberechtigte ist aufgrund des vorbehaltenen Nießbrauchs berechtigt, den Vertragsgegenstand erstmals oder erneut zu vermieten oder zu verpachten. Etwaige Miet- oder Pachtverhältnisse sind vom Erwerber bei Nießbrauchsende zu übernehmen."
Im März 2017 errichteten die Eltern ein gemeinschaftliches Ehegattentestament, in dem sie sich gegenseitig als Vollerben und die Geschäftsführerin der Beklagten als Schlusserbin nach dem Tode des überlebenden Ehegatten einsetzten. Die Mutter starb kurz nach Errichtung des Testaments. Mit einem auf zehn Jahre befristeten "Gewerbemietvertrag" vom 19.5.2021 vermietete der Vater das gesamte Anwesen an die Beklagte. Am 9.9.2021 verstarb der Vater und wurde von der Geschäftsführerin der Beklagten beerbt. Mit Schreiben vom 23.9.2021 kündigte der Kläger das Mietverhältnis mit der Beklagten unter Hinweis auf § 1056 Abs. 2 BGB und verlangt im vorliegenden Verfahren die Herausgabe des Grundstücks.
Das LG gab der Klage statt. Das OLG wies die Berufung der Beklagten mit Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten ließ der BGH die Revision gegen den Beschluss des OLG zu, hob das Urteil des LG auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.
Die Gründe:
Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das OLG mit seiner Verfahrensgestaltung vor dem Erlass des Beschlusses nach § 522 Abs. 2 ZPO den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat.
Das OLG hat seinen Hinweisbeschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu einem Zeitpunkt erlassen, als die Berufung noch nicht begründet war. Das in der Berufungsschrift enthaltene Vorbringen der Beklagten im Vollstreckungsschutzantrag vom 28.4.2022 hat zwar in der Sache auch kursorische Angriffe gegen einzelne Punkte enthalten, die in dem noch nicht schriftlich abgesetzten landgerichtlichen Urteil mutmaßlich nicht ausreichend berücksichtigt worden sein könnten, sich im Übrigen aber auf Ausführungen zu den der Beklagten durch die Herausgabevollstreckung drohenden Nachteilen und der Unauskömmlichkeit der vom LG festgesetzten Sicherheitsleistung beschränkt. Die Begründung der Berufung hat sich die Beklagte ausdrücklich vorbehalten.
Zwar enthält das Gesetz keine ausdrückliche Regelung dazu, zu welchem Zeitpunkt der Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu erfolgen hat. Es ist aber evident, dass zumindest die Berufungsgründe einschließlich etwaiger (zulässig) geltend gemachter neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel vorliegen müssen, um dem Berufungsgericht überhaupt die Beurteilung zu ermöglichen, ob dem Rechtsmittel auch eine mündliche Verhandlung offensichtlich nicht zum Erfolg verhelfen kann. Nach diesen Grundsätzen hätte das OLG die Berufung der Beklagten nicht durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückweisen dürfen, ohne der Beklagten einen (nochmaligen) Hinweis zu erteilen, wonach sich seine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und zur Nichterforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung auch nach Kenntnisnahme von den Berufungsgründen nicht verändert habe.
Der dem OLG unterlaufene Gehörsverstoß ist auch entscheidungserheblich. Allerdings nicht schon deshalb, weil sich das OLG in seinem Zurückweisungsbeschluss nicht mit der von der Beklagten aufgeworfenen Rechtsfrage befasst hat, ob die Rechtsstellung eines Grundstückseigentümers, der Alleinerbe des Nießbrauchsberechtigten wird, und die Rechtsstellung eines Grundstückseigentümers, dem das dienende Grundstück im Wege vorweggenommener Erbfolge übertragen wurde, in Ansehung des Sonderkündigungsrechts nach § 1056 Abs. 2 Satz 1 BGB zumindest "wertungsmäßig" vergleichbar sind. Denn diese Rechtsfrage ist unzweifelhaft zu verneinen. Der Grundstückseigentümer, der den Nießbrauchsberechtigten allein beerbt hat, ist nach erbrechtlichen Grundsätzen durch Universalsukzession unmittelbarer Vertragspartner des Mieters geworden und haftet daher nach § 1967 BGB für die Erfüllung des Mietvertrages als Nachlassverbindlichkeit. Könnte der Erbe in dieser Situation den Mietvertrag gem. § 1056 Abs. 2 Satz 1 BGB kündigen, würde sich eine zu Gunsten des Mieters erlassene Schutzvorschrift in ein ungerechtfertigtes Haftungsprivileg des Erben verkehren.
Demgegenüber trifft den durch einen Übertragungsvertrag im Wege vorweggenommener Erbfolge Begünstigten gem. § 1967 BGB nach allgemeiner Ansicht keine Haftung für Nachlassverbindlichkeiten des Erblassers. Deshalb haftet auch derjenige, dem das dienende Grundstück mit dem Motiv der vorweggenommenen Erbfolge unter Vorbehalt eines Nießbrauchs übertragen wird, nicht schon kraft Gesetzes für die Erfüllung der von dem Nießbraucher abgeschlossenen Mietverträge. Mit der Ausübung des Sonderkündigungsrechts gem. § 1056 Abs. 2 Satz 1 BGB kann daher für ihn auch keine Haftungsprivilegierung verbunden sein. Würde man ihm vielmehr das Sonderkündigungsrecht aus § 1056 Abs. 2 Satz 1 BGB verwehren und ihm dadurch eine im Gesetz nicht vorgesehene Haftung für die Erfüllung der von dem Nießbraucher abgeschlossenen Mietverträge auferlegen, wäre er schlechter gestellt als der Alleinerbe des Nießbrauchers, der sich durch Ausschlagung der Erbschaft von der Haftung für die Nachlassverbindlichkeiten befreien und damit das Sonderkündigungsrecht gem. § 1056 Abs. 2 Satz 1 BGB zu seinen Gunsten aktivieren könnte.
Der Zurückweisungsbeschluss beruht aber deshalb auf dem Gehörsverstoß, weil das OLG auch eine rechtsgeschäftliche Bindung des Klägers an den von dem nießbrauchsberechtigten Vater abgeschlossenen Mietvertrag mit der Beklagten verneint und sich insoweit auf die Auslegung von IV.2. des zwischen dem Kläger und seiner Mutter geschlossenen Übertragungsvertrages vom 12.12.2002 gestützt hat.
Kommentierung | ZPO
§ 522 Zulässigkeitsprüfung; Zurückweisungsbeschluss
Heßler in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024
10/2023
Kommentierung | BGB
§ 1056 Miet- und Pachtverhältnisse bei Beendigung des Nießbrauchs
Bayer in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023
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