Wiederholung einer im ersten Rechtszug durchgeführten Beweisaufnahme
BGH v. 14.7.2020 - VI ZR 468/19
Der Sachverhalt:
Der Kläger begehrt von den Beklagten nach einem Verkehrsunfall materiellen und immateriellen Schadensersatz. Der Beklagte zu 2) befuhr am 13.7.2013 mit einem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Pkw Seat Leon die Landstraße. Er übersah, dass die vor ihm fahrenden Fahrzeuge wegen eines Traktors langsamer wurden und fuhr auf den vor ihm fahrenden Pkw auf. Durch den Aufprall wurde sein Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn verschoben, wo es mit dem entgegenkommenden Fahrzeug Skoda Fabia 5j des Klägers kollidierte.
Das Fahrzeug des Klägers war mit Frontairbags ausgerüstet, die kollisionsbedingt ordnungsgemäß öffneten; den vorhandenen Sicherheitsgurt hatte der Kläger nicht angelegt. Bei dem Unfall wurde der Kläger erheblich verletzt und zog sich unter anderem neben Rippenserienfrakturen, einem Einriss der Arteria vertebralis und einer Lungenverletzung Frakturen der Kniescheiben zu; sein Fahrzeug erlitt bei massiven Frontverletzungen einen Totalschaden.
Das LG gab der Klage unter Berücksichtigung eines Mitwirkungsanteils des Klägers von 20 % teilweise statt. Das OLG änderte das Urteil ab und ging wegen des Nichtanlegens des Sicherheitsgurtes von einer Mitverschuldensquote des Klägers i.H.v. 30 % aus. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.
Die Gründe:
Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das OLG entgegen § 529 Abs. 1 Nr. 1, §§ 398, 402 ZPO den Sachverständigen des unfallanalytischen Gutachtens nicht erneut angehört hat, obwohl es dessen Ausführungen anders gewürdigt hat als das LG.
Auch wenn es grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts steht, ob und inwieweit eine im ersten Rechtszug durchgeführte Beweisaufnahme zu wiederholen ist, bedarf es dann einer erneuten Anhörung des Sachverständigen durch das Berufungsgericht, wenn es dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will, insbesondere ein anderes Verständnis der Ausführungen des Sachverständigen zugrunde legen und damit andere Schlüsse aus diesen ziehen will als der Erstrichter. Insoweit kann nichts Anderes gelten als bei der abweichenden Beurteilung von Zeugenaussagen erster Instanz.
Gegen diese Grundsätze hat das OLG verstoßen. Das LG hat dem schriftlichen Gutachten und den protokollierten Äußerungen des Sachverständigen für die Unfallanalyse S. bei seiner Anhörung entnommen, dass der Sachverständige keine Möglichkeit eines Kausalitätsnachweises gesehen habe, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass die konkret eingehaltene Sitzposition auch bei angelegtem Gurt zu einem Kontakt mit der Instrumententafel führe, weil sich zum einen die Knie des Klägers fahrzeugbauartbedingt in unmittelbarer Nähe der Instrumententafel befunden hätten und zudem nicht ausgeschlossen werden könne, dass es als Folge der Kollision zu einer Intrusion von Bauteilen ins Fahrzeug und damit zu einem Kontakt mit den Knien des Klägers gekommen sei. Demgegenüber hat das OLG unter Berufung auf die schriftlichen und mündlichen Ausführungen des Sachverständigen vor dem LG angenommen, dass bei Einnahme einer "normalen" Sitzposition das Anlegen des Sicherheitsgurtes die Verletzungen gänzlich verhindert oder zumindest abgeschwächt hätte. Damit hat das OLG die sachverständige Bewertung des möglichen Zusammenhangs des Nichtanlegens des Sicherheitsgurtes mit den Knieverletzungen in einer Weise verstanden, die mit den Ausführungen des LG nicht vereinbar ist.
Darüber hinaus hat der Kläger in dem vom OLG nachgelassenen Schriftsatz ausgeführt, dass er sich an seine konkrete Sitzposition zwar nicht erinnern könne; aufgrund seiner aktuellen Sitzposition, seiner Körpergröße (189 cm) und seiner Beinlänge (102 cm), die er aufgrund medizinischer Sachverständigengutachten genau bezeichnen könne, sei aber von einer Sitzposition nah am Dashboard auszugehen. Diesen Vortrag hat das OLG für unbeachtlich erklärt. Auch dieser Vortrag macht eine erneute Tatsachenfeststellung durch sachverständige Erläuterung erforderlich. So kann im Hinblick auf die Größenverhältnisse - des Fahrzeugs und des Klägers - beispielsweise schon nicht ausgeschlossen werden, dass die vom OLG für einen typischen Geschehensablauf vorausgesetzte "normale" Sitzposition für den Kläger aufgrund seiner Beinlänge und Körpergröße in diesem Fahrzeug gar nicht eingenommen werden konnte. Im Übrigen ist bisher nicht festgestellt, wie eine "normale" Sitzposition präzise, also unter Angabe einer bezifferten Distanz, zu definieren ist, die - wie das LG richtig erkannt hat - auch vom Fahrzeugtyp abhängig sein könnte.
BGH online
Der Kläger begehrt von den Beklagten nach einem Verkehrsunfall materiellen und immateriellen Schadensersatz. Der Beklagte zu 2) befuhr am 13.7.2013 mit einem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Pkw Seat Leon die Landstraße. Er übersah, dass die vor ihm fahrenden Fahrzeuge wegen eines Traktors langsamer wurden und fuhr auf den vor ihm fahrenden Pkw auf. Durch den Aufprall wurde sein Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn verschoben, wo es mit dem entgegenkommenden Fahrzeug Skoda Fabia 5j des Klägers kollidierte.
Das Fahrzeug des Klägers war mit Frontairbags ausgerüstet, die kollisionsbedingt ordnungsgemäß öffneten; den vorhandenen Sicherheitsgurt hatte der Kläger nicht angelegt. Bei dem Unfall wurde der Kläger erheblich verletzt und zog sich unter anderem neben Rippenserienfrakturen, einem Einriss der Arteria vertebralis und einer Lungenverletzung Frakturen der Kniescheiben zu; sein Fahrzeug erlitt bei massiven Frontverletzungen einen Totalschaden.
Das LG gab der Klage unter Berücksichtigung eines Mitwirkungsanteils des Klägers von 20 % teilweise statt. Das OLG änderte das Urteil ab und ging wegen des Nichtanlegens des Sicherheitsgurtes von einer Mitverschuldensquote des Klägers i.H.v. 30 % aus. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.
Die Gründe:
Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das OLG entgegen § 529 Abs. 1 Nr. 1, §§ 398, 402 ZPO den Sachverständigen des unfallanalytischen Gutachtens nicht erneut angehört hat, obwohl es dessen Ausführungen anders gewürdigt hat als das LG.
Auch wenn es grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts steht, ob und inwieweit eine im ersten Rechtszug durchgeführte Beweisaufnahme zu wiederholen ist, bedarf es dann einer erneuten Anhörung des Sachverständigen durch das Berufungsgericht, wenn es dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will, insbesondere ein anderes Verständnis der Ausführungen des Sachverständigen zugrunde legen und damit andere Schlüsse aus diesen ziehen will als der Erstrichter. Insoweit kann nichts Anderes gelten als bei der abweichenden Beurteilung von Zeugenaussagen erster Instanz.
Gegen diese Grundsätze hat das OLG verstoßen. Das LG hat dem schriftlichen Gutachten und den protokollierten Äußerungen des Sachverständigen für die Unfallanalyse S. bei seiner Anhörung entnommen, dass der Sachverständige keine Möglichkeit eines Kausalitätsnachweises gesehen habe, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass die konkret eingehaltene Sitzposition auch bei angelegtem Gurt zu einem Kontakt mit der Instrumententafel führe, weil sich zum einen die Knie des Klägers fahrzeugbauartbedingt in unmittelbarer Nähe der Instrumententafel befunden hätten und zudem nicht ausgeschlossen werden könne, dass es als Folge der Kollision zu einer Intrusion von Bauteilen ins Fahrzeug und damit zu einem Kontakt mit den Knien des Klägers gekommen sei. Demgegenüber hat das OLG unter Berufung auf die schriftlichen und mündlichen Ausführungen des Sachverständigen vor dem LG angenommen, dass bei Einnahme einer "normalen" Sitzposition das Anlegen des Sicherheitsgurtes die Verletzungen gänzlich verhindert oder zumindest abgeschwächt hätte. Damit hat das OLG die sachverständige Bewertung des möglichen Zusammenhangs des Nichtanlegens des Sicherheitsgurtes mit den Knieverletzungen in einer Weise verstanden, die mit den Ausführungen des LG nicht vereinbar ist.
Darüber hinaus hat der Kläger in dem vom OLG nachgelassenen Schriftsatz ausgeführt, dass er sich an seine konkrete Sitzposition zwar nicht erinnern könne; aufgrund seiner aktuellen Sitzposition, seiner Körpergröße (189 cm) und seiner Beinlänge (102 cm), die er aufgrund medizinischer Sachverständigengutachten genau bezeichnen könne, sei aber von einer Sitzposition nah am Dashboard auszugehen. Diesen Vortrag hat das OLG für unbeachtlich erklärt. Auch dieser Vortrag macht eine erneute Tatsachenfeststellung durch sachverständige Erläuterung erforderlich. So kann im Hinblick auf die Größenverhältnisse - des Fahrzeugs und des Klägers - beispielsweise schon nicht ausgeschlossen werden, dass die vom OLG für einen typischen Geschehensablauf vorausgesetzte "normale" Sitzposition für den Kläger aufgrund seiner Beinlänge und Körpergröße in diesem Fahrzeug gar nicht eingenommen werden konnte. Im Übrigen ist bisher nicht festgestellt, wie eine "normale" Sitzposition präzise, also unter Angabe einer bezifferten Distanz, zu definieren ist, die - wie das LG richtig erkannt hat - auch vom Fahrzeugtyp abhängig sein könnte.