Zu den Schutzpflichten von Pflegeheimen gegenüber demenzkranken Bewohnern
BGH v. 14.1.2021 - III ZR 168/19
Der Sachverhalt:
Die Klägerin nimmt als Miterbin ihres Ehemannes die beklagte Betreiberin eines Alten- und Pflegeheims aus übergegangenem und abgetretenem Recht auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes in Anspruch. Der im Jahr 1950 geborene Ehemann der Klägerin lebte seit Februar 2014 in dem Pflegeheim. Er war hochgradig dement und litt unter Gedächtnisstörungen infolge Korsakow-Syndroms sowie psychisch-motorischer Unruhe. Zudem war er örtlich, zeitlich, räumlich und situativ sowie zeitweise zur Person desorientiert. Die Notwendigkeit besonderer Betreuung bestand wegen Lauftendenz, Selbstgefährdung, nächtlicher Unruhe und Sinnestäuschungen. Die Beklagte brachte ihn in einem Zimmer im dritten Obergeschoss unter, das über zwei große Dachfenster verfügte, die gegen unbeaufsichtigtes Öffnen nicht gesichert waren. Der Abstand zwischen dem Fußboden und den Fenstern betrug 120 cm. Vor den Fenstern befanden sich ein 40 cm hoher Heizkörper sowie in 70 cm Höhe eine Fensterbank, über die man gleichsam stufenweise zur Fensteröffnung gelangen konnte.
Am Nachmittag des 27.7.2014 stürzte der Heimbewohner aus einem der beiden Fenster. Dabei erlitt er schwere Verletzungen, an denen er trotz mehrerer Operationen und Heilbehandlungen im Oktober 2014 verstarb. Die Klägerin macht geltend, die Beklagte habe geeignete Schutzmaßnahmen zur Verhinderung des Fenstersturzes unterlassen. Es hätten zwingende Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung vorgelegen. Ihr Ehemann sei gerade auf Grund seiner Demenz mit Gedächtnisstörungen im Pflegeheim der Beklagten untergebracht worden. Vor diesem Hintergrund stelle die Unterbringung im dritten Obergeschoss in einem Zimmer, dessen Fenster leicht zu öffnen gewesen seien, eine erhebliche Pflichtverletzung dar.
LG und OLG wiesen die auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 50.000 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage ab. Dem Vortrag der darlegungs- und beweispflichtigen Klägerin und den vorgelegten Unterlagen könne nicht entnommen werden, dass die Beklagte ihre vertraglichen Obhutspflichten oder die allgemeine Verkehrssicherungspflicht verletzt habe. Der Sturz habe sich im normalen, alltäglichen Gefahrenbereich ereignet, welcher grundsätzlich der jeweils eigenverantwortlichen Risikosphäre des Geschädigten zuzurechnen sei. Vorkehrungen gegen das Hinausklettern des Bewohners über das Fenster hätten nur dann getroffen werden müssen, wenn mit einer solchen Selbstgefährdung wegen seiner Verfassung und seines Verhaltens (ernsthaft) hätte gerechnet werden müssen. Hierfür fehlten hinreichende Anhaltspunkte. Sein geistiger Zustand und das daraus resultierende inadäquate Verhalten hätten es nicht erforderlich gemacht, Sicherungsmaßnahmen hinsichtlich der Fenster zu ergreifen.
Das LG gab der Klage teilweise statt; das OLG wies sie ab. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.
Die Gründe:
Der Heimbetreiber hat die Pflicht, unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts der ihm anvertrauten Bewohner diese vor Gefahren zu schützen, die sie nicht beherrschen. Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig beeinträchtigten Heimbewohners zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, kann nicht generell, sondern nur aufgrund einer Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden. Maßgebend ist, ob wegen der körperlichen und geistigen Verfassung des pflegebedürftigen Bewohners aus der ex-ante-Sicht ernsthaft damit gerechnet werden musste, dass er sich ohne Sicherungsmaßnahmen selbst schädigen könnte. Dabei muss allerdings auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass bereits eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich ist, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, geeignet ist, Sicherungspflichten des Heimträgers zu begründen.
Dementsprechend darf bei erkannter oder erkennbarer Selbstschädigungsgefahr ein an Demenz erkrankter Heimbewohner, bei dem unkontrollierte und unkalkulierbare Handlungen jederzeit möglich erscheinen, nicht in einem - zumal im Obergeschoss gelegenen - Wohnraum mit unproblematisch erreichbaren und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung besteht hingegen keine Pflicht zu besonderen (vorbeugenden) Sicherungsmaßnahmen. Die tatrichterliche Würdigung des OLG, die Beklagte und das betreuende Pflegepersonal hätten Vorkehrungen gegen ein Heraussteigen des Bewohners aus einem der Fenster seines Heimzimmers für entbehrlich halten dürfen, ist unvollständig und somit rechtsfehlerhaft, weil für die zu treffende Abwägungsentscheidung wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden.
Bei dem Bewohner lagen schon zu Beginn seines Aufenthalts im Pflegeheim der Beklagten schwere Demenzerscheinungen vor. Er litt nicht nur unter Gedächtnisstörungen infolge Korsakow-Syndroms und zeitweise unter Sinnestäuschungen, sondern wies auch - bei hoher Mobilität - eine psychisch-motorische Unruhe mit unkontrollierten Lauftendenzen auf. Indem er mehrfach aus dem ihm zugewiesenen Gehwagen herauskletterte, stellte er eine gewisse motorische Geschicklichkeit unter Beweis. Darüber hinaus zeigte er inadäquate Verhaltensweisen mit Selbstgefährdungstendenzen und war zeitlich, örtlich, räumlich und situativ sowie zeitweise auch zur Person desorientiert. Da die leicht zu öffnenden, nicht gesicherten Fenster in dem Zimmer des Bewohners über den davor befindlichen Heizkörper und das Fensterbrett gleichsam treppenartig erreicht werden konnten, war es ohne weiteres möglich, zur Fensteröffnung zu gelangen und nach draußen auf eine 60 Zentimeter tiefe horizontale Dachfläche zu treten.
Bei dieser Sachlage konnten unkontrollierte und unkalkulierbare selbstschädigende Handlungen infolge von Desorientierung und Sinnestäuschungen nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, wobei auch ein Verlassen des Zimmers über ein leicht zugängliches, möglicherweise sogar geöffnetes Fenster in Betracht gezogen werden musste. Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, ob ein solcher Unglückfall nahelag, da auch eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich ist, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, Sicherungspflichten des Heimträgers auslösen kann. Dies hat das OLG übersehen. Es wird im zweiten Rechtsgang - ggf. sachverständig beraten - im Rahmen der gebotenen medizinischen Risikoprognose das gesamte Krankheitsbild des Bewohners und insbesondere seine durch ausgeprägte Demenzerscheinungen gekennzeichnete geistige und körperliche Verfassung sorgfältig zu bewerten haben.
BGH PM Nr. 7 vom 14.1.2021
Die Klägerin nimmt als Miterbin ihres Ehemannes die beklagte Betreiberin eines Alten- und Pflegeheims aus übergegangenem und abgetretenem Recht auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes in Anspruch. Der im Jahr 1950 geborene Ehemann der Klägerin lebte seit Februar 2014 in dem Pflegeheim. Er war hochgradig dement und litt unter Gedächtnisstörungen infolge Korsakow-Syndroms sowie psychisch-motorischer Unruhe. Zudem war er örtlich, zeitlich, räumlich und situativ sowie zeitweise zur Person desorientiert. Die Notwendigkeit besonderer Betreuung bestand wegen Lauftendenz, Selbstgefährdung, nächtlicher Unruhe und Sinnestäuschungen. Die Beklagte brachte ihn in einem Zimmer im dritten Obergeschoss unter, das über zwei große Dachfenster verfügte, die gegen unbeaufsichtigtes Öffnen nicht gesichert waren. Der Abstand zwischen dem Fußboden und den Fenstern betrug 120 cm. Vor den Fenstern befanden sich ein 40 cm hoher Heizkörper sowie in 70 cm Höhe eine Fensterbank, über die man gleichsam stufenweise zur Fensteröffnung gelangen konnte.
Am Nachmittag des 27.7.2014 stürzte der Heimbewohner aus einem der beiden Fenster. Dabei erlitt er schwere Verletzungen, an denen er trotz mehrerer Operationen und Heilbehandlungen im Oktober 2014 verstarb. Die Klägerin macht geltend, die Beklagte habe geeignete Schutzmaßnahmen zur Verhinderung des Fenstersturzes unterlassen. Es hätten zwingende Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung vorgelegen. Ihr Ehemann sei gerade auf Grund seiner Demenz mit Gedächtnisstörungen im Pflegeheim der Beklagten untergebracht worden. Vor diesem Hintergrund stelle die Unterbringung im dritten Obergeschoss in einem Zimmer, dessen Fenster leicht zu öffnen gewesen seien, eine erhebliche Pflichtverletzung dar.
LG und OLG wiesen die auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 50.000 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage ab. Dem Vortrag der darlegungs- und beweispflichtigen Klägerin und den vorgelegten Unterlagen könne nicht entnommen werden, dass die Beklagte ihre vertraglichen Obhutspflichten oder die allgemeine Verkehrssicherungspflicht verletzt habe. Der Sturz habe sich im normalen, alltäglichen Gefahrenbereich ereignet, welcher grundsätzlich der jeweils eigenverantwortlichen Risikosphäre des Geschädigten zuzurechnen sei. Vorkehrungen gegen das Hinausklettern des Bewohners über das Fenster hätten nur dann getroffen werden müssen, wenn mit einer solchen Selbstgefährdung wegen seiner Verfassung und seines Verhaltens (ernsthaft) hätte gerechnet werden müssen. Hierfür fehlten hinreichende Anhaltspunkte. Sein geistiger Zustand und das daraus resultierende inadäquate Verhalten hätten es nicht erforderlich gemacht, Sicherungsmaßnahmen hinsichtlich der Fenster zu ergreifen.
Das LG gab der Klage teilweise statt; das OLG wies sie ab. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.
Die Gründe:
Der Heimbetreiber hat die Pflicht, unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts der ihm anvertrauten Bewohner diese vor Gefahren zu schützen, die sie nicht beherrschen. Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig beeinträchtigten Heimbewohners zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, kann nicht generell, sondern nur aufgrund einer Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden. Maßgebend ist, ob wegen der körperlichen und geistigen Verfassung des pflegebedürftigen Bewohners aus der ex-ante-Sicht ernsthaft damit gerechnet werden musste, dass er sich ohne Sicherungsmaßnahmen selbst schädigen könnte. Dabei muss allerdings auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass bereits eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich ist, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, geeignet ist, Sicherungspflichten des Heimträgers zu begründen.
Dementsprechend darf bei erkannter oder erkennbarer Selbstschädigungsgefahr ein an Demenz erkrankter Heimbewohner, bei dem unkontrollierte und unkalkulierbare Handlungen jederzeit möglich erscheinen, nicht in einem - zumal im Obergeschoss gelegenen - Wohnraum mit unproblematisch erreichbaren und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung besteht hingegen keine Pflicht zu besonderen (vorbeugenden) Sicherungsmaßnahmen. Die tatrichterliche Würdigung des OLG, die Beklagte und das betreuende Pflegepersonal hätten Vorkehrungen gegen ein Heraussteigen des Bewohners aus einem der Fenster seines Heimzimmers für entbehrlich halten dürfen, ist unvollständig und somit rechtsfehlerhaft, weil für die zu treffende Abwägungsentscheidung wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden.
Bei dem Bewohner lagen schon zu Beginn seines Aufenthalts im Pflegeheim der Beklagten schwere Demenzerscheinungen vor. Er litt nicht nur unter Gedächtnisstörungen infolge Korsakow-Syndroms und zeitweise unter Sinnestäuschungen, sondern wies auch - bei hoher Mobilität - eine psychisch-motorische Unruhe mit unkontrollierten Lauftendenzen auf. Indem er mehrfach aus dem ihm zugewiesenen Gehwagen herauskletterte, stellte er eine gewisse motorische Geschicklichkeit unter Beweis. Darüber hinaus zeigte er inadäquate Verhaltensweisen mit Selbstgefährdungstendenzen und war zeitlich, örtlich, räumlich und situativ sowie zeitweise auch zur Person desorientiert. Da die leicht zu öffnenden, nicht gesicherten Fenster in dem Zimmer des Bewohners über den davor befindlichen Heizkörper und das Fensterbrett gleichsam treppenartig erreicht werden konnten, war es ohne weiteres möglich, zur Fensteröffnung zu gelangen und nach draußen auf eine 60 Zentimeter tiefe horizontale Dachfläche zu treten.
Bei dieser Sachlage konnten unkontrollierte und unkalkulierbare selbstschädigende Handlungen infolge von Desorientierung und Sinnestäuschungen nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, wobei auch ein Verlassen des Zimmers über ein leicht zugängliches, möglicherweise sogar geöffnetes Fenster in Betracht gezogen werden musste. Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, ob ein solcher Unglückfall nahelag, da auch eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich ist, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, Sicherungspflichten des Heimträgers auslösen kann. Dies hat das OLG übersehen. Es wird im zweiten Rechtsgang - ggf. sachverständig beraten - im Rahmen der gebotenen medizinischen Risikoprognose das gesamte Krankheitsbild des Bewohners und insbesondere seine durch ausgeprägte Demenzerscheinungen gekennzeichnete geistige und körperliche Verfassung sorgfältig zu bewerten haben.