Zu den Voraussetzungen einer nicht zu rechtfertigenden Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB
BGH v. 3.2.2021 - VIII ZR 68/19
Der Sachverhalt:
Die 1932 geborene Beklagte und ihr 1934 geborener, inzwischen verstorbener Ehemann, der ehemalige Beklagte zu 2), mieteten im Jahr 1997 von der Rechtsvorgängerin der Klägerin eine Zweizimmerwohnung in Berlin. Die Klägerin ist seit Juli 2015 Eigentümerin dieser Wohnung. Im August 2015 erklärte sie die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses zum 31.7.2016 wegen Eigenbedarfs und wiederholte diese Erklärung vorsorglich in der Klageschrift im September 2016 sowie in einem weiteren Schriftsatz im Dezember 2016. Zur Begründung führte sie an, sie wolle während ihrer Aufenthalte in Berlin künftig nicht mehr - wie bisher - zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn zur Miete, sondern stattdessen allein in der in ihrem Eigentum stehenden Wohnung leben.
Die Beklagte und ihr zwischenzeitlich verstorbener Ehemann widersprachen dieser Kündigung unter Verweis auf ihr hohes Alter, ihren beeinträchtigten Gesundheitszustand, ihre langjährige Verwurzelung am Ort der Mietsache und ihre für die Beschaffung von Ersatzwohnraum zu beschränkten finanziellen Mittel. In der Folgezeit sprach die Klägerin weitere - nunmehr fristlose, hilfsweise ordentliche - Kündigungen des Mietverhältnisses gestützt auf verschiedene Verhaltensweisen der Beklagten und ihres mittlerweile verstorbenen Ehemanns aus.
Das AG wies die auf Räumung und Herausgabe gerichtete Klage - nach Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens über die für die Beklagten zu besorgenden Kündigungsfolgen - ab und ordnete an (§ 308a Abs. 1 ZPO), dass das Mietverhältnis der Parteien über die betreffende Wohnung auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werde. Über die hilfsweise erhobene - auf Feststellung der unbefristeten Fortsetzung des Mietverhältnisses zu den bisherigen Bedingungen gerichtete - Widerklage der Beklagten und ihres mittlerweile verstorbenen Ehemanns hat es mangels Eintritts der Bedingung (Erfolglosigkeit des Klageabweisungsantrags) eine Entscheidung nicht getroffen. Die Berufung der Klägerin hatte vor dem LG keinen Erfolg. Nachdem der Ehemann der Beklagten im April 2019 verstorben ist, haben die Parteien den Rechtsstreit, soweit er den (ehemaligen) Beklagten zu 2) betroffen hat, in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt.
Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Urteil des LG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.
Die Gründe:
Mit der vom LG gegebenen Begründung kann ein Anspruch der Klägerin auf Räumung und Herausgabe der von der Beklagten und ihrem verstorbenen Ehemann angemieteten Wohnung nach § 546 Abs. 1, § 985 BGB nicht verneint werden. Die Bewertung des LG, die Beklagte könne die Fortsetzung des Mietverhältnisses nach §§ 574, 574a BGB auf unbestimmte Zeit verlangen, beruht auf revisionsrechtlich beachtlichen Rechtsfehlern. Das LG hat unzutreffende rechtliche Maßstäbe sowohl bei der Beurteilung des Härtebegriffs des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB als auch bei der nach dieser Vorschrift vorzunehmenden Abwägung der gegenläufigen Interessen der Mietvertragsparteien angesetzt, indem es angenommen hat, allein das hohe Alter eines Mieters rechtfertige die Bejahung einer Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB und gebiete im Rahmen der Interessenabwägung regelmäßig die Bejahung eines Anspruchs des Mieters auf Fortsetzung des Mietverhältnisses.
Zwar ist das LG im Ansatz noch zutreffend davon ausgegangen, dass nur solche für den Mieter mit einem Umzug verbundenen Nachteile als Härtegründe i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB in Betracht kommen, die sich von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich abheben. Rechtsfehlerhaft hat es jedoch angenommen, allein das hohe Alter eines Mieters rechtfertige nach diesem Maßstab die Bejahung einer Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB. Es hat insoweit außer Acht gelassen, dass sich das hohe Alter eines Menschen je nach Persönlichkeit und körperlicher sowie psychischer Verfassung unterschiedlich auswirkt und dieser Umstand deshalb - wie der Senat mit seinem nach der Verkündung der angegriffenen Entscheidung ergangenem Urteil vom 22.5.2019 (VIII ZR 180/18) entschieden hat - ohne weitere Feststellungen zu den sich hieraus ergebenden Folgen für den betroffenen Mieter im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels grundsätzlich noch nicht eine Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB begründet.
Soweit das LG eine jahrzehntelange soziale Verwurzelung der Beklagten am Ort der Mietsache angenommen hat, lässt die angefochtene Entscheidung Ausführungen dazu, auf welchen Umständen diese Annahme beruht, vollständig vermissen. Denn eine langjährige Mietdauer (hier zum Zeitpunkt der ersten Eigenbedarfskündigung rd. 18 Jahre) lässt für sich genommen noch nicht auf eine tiefe soziale Verwurzelung des Mieters am Ort der Mietsache schließen. Vielmehr hängt deren Entstehung maßgeblich von der individuellen Lebensführung des jeweiligen Mieters ab, namentlich davon, ob er beispielsweise soziale Kontakte in der Nachbarschaft pflegt, Einkäufe für den täglichen Lebensbedarf in der näheren Umgebung erledigt, an kulturellen, sportlichen oder religiösen Veranstaltungen in der Nähe seiner Wohnung teilnimmt und/oder medizinische oder andere Dienstleistungen in seiner Wohnumgebung in Anspruch nimmt. Solche Gegebenheiten hat das LG nicht festgestellt. Unabhängig davon fehlt es ferner an Feststellungen des LG zu den konkreten Folgen, die sich aus dem hohen Lebensalter der Beklagten und ihrer etwaigen sozialen Verwurzelung am bisherigen Wohnort im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels für sie ergebe.
Überdies hat das LG bei der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB vorzunehmenden Interessenabwägung einen unzutreffenden rechtlichen Maßstab angelegt und deshalb auch insoweit die für die Beurteilung des Streitfalls notwendigen Feststellungen nicht getroffen. Bei der Bewertung und Gewichtung der widerstreitenden Interessen beider Mietvertragsparteien im Rahmen der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB vorzunehmenden Abwägung ist den Wertentscheidungen Rechnung zu tragen, die in den für sie streitenden Grundrechten zum Ausdruck kommen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bzgl. der Anwendung und Auslegung des Kündigungstatbestandes des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB einerseits und der Sozialklausel des § 574 BGB andererseits dieselben verfassungsrechtlichen Maßstäbe gelten, so dass auch im Rahmen der Vorschrift des § 574 BGB die vom Vermieter beabsichtigte Lebensplanung grundsätzlich zu respektieren und der Rechtsfindung zugrunde zu legen ist. Die Abwägung der gegenläufigen Interessen hat sich stets an den konkreten Umständen des zu beurteilenden Einzelfalls auszurichten. Dabei ist es angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse unzulässig, bestimmten Belangen des Vermieters und/ oder des Mieters von vornherein - kategorisch - ein größeres Gewicht beizumessen als denen der Gegenseite.
Diesen Anforderungen wird die vom LG vorgenommene Interessenabwägung nicht gerecht. Mit der Annahme, das hohe Alter des Mieters gebiete gem. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters in der Regel die Fortsetzung des Mietverhältnisses, hat sich das LG - unzulässiger Weise - auf eine (wertende) Kategorisierung der widerstreitenden Interessen zurückgezogen, nämlich dem Bestandsinteresse eines Mieters in hohem Lebensalter - im Wege einer generalisierenden Wertung - den Vorrang gegenüber dem berechtigten Erlangungsinteresse des Vermieters eingeräumt.
BGH online
Die 1932 geborene Beklagte und ihr 1934 geborener, inzwischen verstorbener Ehemann, der ehemalige Beklagte zu 2), mieteten im Jahr 1997 von der Rechtsvorgängerin der Klägerin eine Zweizimmerwohnung in Berlin. Die Klägerin ist seit Juli 2015 Eigentümerin dieser Wohnung. Im August 2015 erklärte sie die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses zum 31.7.2016 wegen Eigenbedarfs und wiederholte diese Erklärung vorsorglich in der Klageschrift im September 2016 sowie in einem weiteren Schriftsatz im Dezember 2016. Zur Begründung führte sie an, sie wolle während ihrer Aufenthalte in Berlin künftig nicht mehr - wie bisher - zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn zur Miete, sondern stattdessen allein in der in ihrem Eigentum stehenden Wohnung leben.
Die Beklagte und ihr zwischenzeitlich verstorbener Ehemann widersprachen dieser Kündigung unter Verweis auf ihr hohes Alter, ihren beeinträchtigten Gesundheitszustand, ihre langjährige Verwurzelung am Ort der Mietsache und ihre für die Beschaffung von Ersatzwohnraum zu beschränkten finanziellen Mittel. In der Folgezeit sprach die Klägerin weitere - nunmehr fristlose, hilfsweise ordentliche - Kündigungen des Mietverhältnisses gestützt auf verschiedene Verhaltensweisen der Beklagten und ihres mittlerweile verstorbenen Ehemanns aus.
Das AG wies die auf Räumung und Herausgabe gerichtete Klage - nach Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens über die für die Beklagten zu besorgenden Kündigungsfolgen - ab und ordnete an (§ 308a Abs. 1 ZPO), dass das Mietverhältnis der Parteien über die betreffende Wohnung auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werde. Über die hilfsweise erhobene - auf Feststellung der unbefristeten Fortsetzung des Mietverhältnisses zu den bisherigen Bedingungen gerichtete - Widerklage der Beklagten und ihres mittlerweile verstorbenen Ehemanns hat es mangels Eintritts der Bedingung (Erfolglosigkeit des Klageabweisungsantrags) eine Entscheidung nicht getroffen. Die Berufung der Klägerin hatte vor dem LG keinen Erfolg. Nachdem der Ehemann der Beklagten im April 2019 verstorben ist, haben die Parteien den Rechtsstreit, soweit er den (ehemaligen) Beklagten zu 2) betroffen hat, in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt.
Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Urteil des LG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.
Die Gründe:
Mit der vom LG gegebenen Begründung kann ein Anspruch der Klägerin auf Räumung und Herausgabe der von der Beklagten und ihrem verstorbenen Ehemann angemieteten Wohnung nach § 546 Abs. 1, § 985 BGB nicht verneint werden. Die Bewertung des LG, die Beklagte könne die Fortsetzung des Mietverhältnisses nach §§ 574, 574a BGB auf unbestimmte Zeit verlangen, beruht auf revisionsrechtlich beachtlichen Rechtsfehlern. Das LG hat unzutreffende rechtliche Maßstäbe sowohl bei der Beurteilung des Härtebegriffs des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB als auch bei der nach dieser Vorschrift vorzunehmenden Abwägung der gegenläufigen Interessen der Mietvertragsparteien angesetzt, indem es angenommen hat, allein das hohe Alter eines Mieters rechtfertige die Bejahung einer Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB und gebiete im Rahmen der Interessenabwägung regelmäßig die Bejahung eines Anspruchs des Mieters auf Fortsetzung des Mietverhältnisses.
Zwar ist das LG im Ansatz noch zutreffend davon ausgegangen, dass nur solche für den Mieter mit einem Umzug verbundenen Nachteile als Härtegründe i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB in Betracht kommen, die sich von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich abheben. Rechtsfehlerhaft hat es jedoch angenommen, allein das hohe Alter eines Mieters rechtfertige nach diesem Maßstab die Bejahung einer Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB. Es hat insoweit außer Acht gelassen, dass sich das hohe Alter eines Menschen je nach Persönlichkeit und körperlicher sowie psychischer Verfassung unterschiedlich auswirkt und dieser Umstand deshalb - wie der Senat mit seinem nach der Verkündung der angegriffenen Entscheidung ergangenem Urteil vom 22.5.2019 (VIII ZR 180/18) entschieden hat - ohne weitere Feststellungen zu den sich hieraus ergebenden Folgen für den betroffenen Mieter im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels grundsätzlich noch nicht eine Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB begründet.
Soweit das LG eine jahrzehntelange soziale Verwurzelung der Beklagten am Ort der Mietsache angenommen hat, lässt die angefochtene Entscheidung Ausführungen dazu, auf welchen Umständen diese Annahme beruht, vollständig vermissen. Denn eine langjährige Mietdauer (hier zum Zeitpunkt der ersten Eigenbedarfskündigung rd. 18 Jahre) lässt für sich genommen noch nicht auf eine tiefe soziale Verwurzelung des Mieters am Ort der Mietsache schließen. Vielmehr hängt deren Entstehung maßgeblich von der individuellen Lebensführung des jeweiligen Mieters ab, namentlich davon, ob er beispielsweise soziale Kontakte in der Nachbarschaft pflegt, Einkäufe für den täglichen Lebensbedarf in der näheren Umgebung erledigt, an kulturellen, sportlichen oder religiösen Veranstaltungen in der Nähe seiner Wohnung teilnimmt und/oder medizinische oder andere Dienstleistungen in seiner Wohnumgebung in Anspruch nimmt. Solche Gegebenheiten hat das LG nicht festgestellt. Unabhängig davon fehlt es ferner an Feststellungen des LG zu den konkreten Folgen, die sich aus dem hohen Lebensalter der Beklagten und ihrer etwaigen sozialen Verwurzelung am bisherigen Wohnort im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels für sie ergebe.
Überdies hat das LG bei der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB vorzunehmenden Interessenabwägung einen unzutreffenden rechtlichen Maßstab angelegt und deshalb auch insoweit die für die Beurteilung des Streitfalls notwendigen Feststellungen nicht getroffen. Bei der Bewertung und Gewichtung der widerstreitenden Interessen beider Mietvertragsparteien im Rahmen der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB vorzunehmenden Abwägung ist den Wertentscheidungen Rechnung zu tragen, die in den für sie streitenden Grundrechten zum Ausdruck kommen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bzgl. der Anwendung und Auslegung des Kündigungstatbestandes des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB einerseits und der Sozialklausel des § 574 BGB andererseits dieselben verfassungsrechtlichen Maßstäbe gelten, so dass auch im Rahmen der Vorschrift des § 574 BGB die vom Vermieter beabsichtigte Lebensplanung grundsätzlich zu respektieren und der Rechtsfindung zugrunde zu legen ist. Die Abwägung der gegenläufigen Interessen hat sich stets an den konkreten Umständen des zu beurteilenden Einzelfalls auszurichten. Dabei ist es angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse unzulässig, bestimmten Belangen des Vermieters und/ oder des Mieters von vornherein - kategorisch - ein größeres Gewicht beizumessen als denen der Gegenseite.
Diesen Anforderungen wird die vom LG vorgenommene Interessenabwägung nicht gerecht. Mit der Annahme, das hohe Alter des Mieters gebiete gem. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters in der Regel die Fortsetzung des Mietverhältnisses, hat sich das LG - unzulässiger Weise - auf eine (wertende) Kategorisierung der widerstreitenden Interessen zurückgezogen, nämlich dem Bestandsinteresse eines Mieters in hohem Lebensalter - im Wege einer generalisierenden Wertung - den Vorrang gegenüber dem berechtigten Erlangungsinteresse des Vermieters eingeräumt.