Zu duldender Überbau: Folgen des Abbruchs des Gebäudes für die eigentumsrechtliche Zuordnung des restlichen Gebäudeteils
BGH v. 10.7.2020 - V ZR 156/19
Der Sachverhalt:
Die Klägerin war Eigentümerin eines ungeteilten Grundstücks in Dresden, auf dem im Jahr 1989 ein sog. Versuchsplattenbau errichtet wurde. Von den insgesamt zehn Segmenten dieses Plattenbaus standen sechs auf dem Grundstück der Klägerin, drei Segmente auf dem benachbarten Grundstück und ein Segment auf beiden Grundstücken. Das benachbarte Grundstück gehört der R. und K. K. GbR (fortan: GbR).
Die Klägerin erwirkte ein Urteil, durch das die GbR und deren Gesellschafter zur Herausgabe der auf dem Grundstück der GbR stehenden Segmente bzw. Segmentteile des Plattenbaus und der Gesellschafter R. K. zur Herausgabe der von ihm bewohnten Wohnung in diesen Segmenten verurteilt wurden. Die Berufung der GbR und ihrer Gesellschafter zum OLG Dresden und die gegen das Berufungsurteil eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH hatten keinen Erfolg. Bei der Vollstreckung des Herausgabeurteils erlangte die Klägerin den Besitz an dem Plattenbaurest auf dem Grundstück der GbR mit Ausnahme einer Wohnung im Erd- und Kellergeschoss, die sich im Besitz der Beklagten befindet und deren Herausgabe die Beklagte verweigert.
Die Klägerin teilte ihr Grundstück 2017 in Wohnungseigentum auf und veräußerte im Oktober 2017 die vorgesehenen Wohnungen. Die Plattenbausegmente auf ihrem Grundstück ließ die Klägerin abreißen. Dadurch wurde der Plattenbaurest auf dem Grundstück der GbR von allen Versorgungsleitungen abgeschnitten. Nach der Behauptung der Beklagten wurde die erste der auf dem Grundstück der Klägerin errichteten Eigentumswohnungen im Mai 2019 an einen Käufer übergeben.
Die Klägerin verlangt Herausgabe der von der Beklagten beanspruchten Wohnung an sich. Das AG hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Der BGH hat nun auch die Revision zurückgewiesen.
Die Gründe:
Die Beklagte ist nach § 985 BGB verpflichtet, die Wohnung an die Klägerin herauszugeben. Die Klägerin war bis zu dem Abbruch der auf ihrem Grundstück befindlichen Segmente des früheren Plattenbaus Eigentümerin auch der auf dem Grundstück der GbR befindlichen Segmente dieses Gebäudes. Dieser Gebäudeteil ist nämlich ein vor der Wiedervereinigung entstandener und nach wie vor zu duldender Überbau.
Der vor der Wiedervereinigung als Versuchsbau errichtete Plattenbau hat sich über beide Grundstücke erstreckt und sowohl aus baulicher als auch aus funktionaler Sicht ein einheitliches Gebäude dargestellt. Sämtliche Leitungen für Wasser, Abwasser, Strom und Heizung haben nur einen End- und Anfangspunkt; das ist auch der Grund dafür, dass der Gebäuderest nach dem Abbruch der Segmente auf dem Grundstück der Klägerin nicht mehr mit Wasser, Strom und Heizung versorgt ist und Abwasser nicht mehr entsorgt werden kann. Bei den Plattenbausegmenten auf dem Grundstück der GbR handelt es sich daher um einen zu duldenden Überbau auf deren Grundstück, der jedenfalls bis zum Abbruch der Segmente des Gebäudes auf dem Grundstück der Klägerin wesentlicher Bestandteil dieses Grundstücks gewesen ist. Daran ändert der von der Revision hervorgehobene Gesichtspunkt, dass der Plattenbau bei seiner Errichtung ein Eigengrenzüberbau war, nichts. Denn für die Bestimmung des Stammgrundstücks gelten bei einem Eigengrenzüberbau dieselben Grundsätze wie für bei einem aus anderen Gründen zu duldenden Überbau.
Die Segmente des Plattenbaus auf dem Grundstück der GbR sind auch nach dem Abbruch des Plattenbaus auf dem Stammgrundstück (dem Grundstück der Klägerin) wesentliche Bestandteile des Stammgrundstücks geblieben.
Der Abbruch des auf dem Stammgrundstück befindlichen Teils eines auf das Nachbargrundstück übergebauten Gebäudes führt allerdings dazu, dass die Vorschriften über die Verpflichtung zur Duldung eines entschuldigten bzw. rechtmäßigen Überbaus ihren Zweck nicht mehr erfüllen können. Mit dem Abbruch des Gebäudes auf dem Stammgrundstück wird nämlich der in dem Gebäude verkörperte wirtschaftliche Wert beseitigt, der vor einer Zerschlagung geschützt werden soll und die Duldungspflicht des Nachbarn nach oder analog § 912 Abs. 1 BGB rechtfertigt.
Bei einem zu duldenden Überbau hat der vollständige Abbruch des Gebäudes auf dem Stammgrundstück indessen "nur" zur Folge, dass die Duldungspflicht des Nachbarn entfällt. Dagegen bleibt die eigentumsrechtliche Zuordnung des auf dem Nachbargrundstück befindlichen Gebäudeteils zum Stammgrundstück unverändert. Das gilt auch für Überbauungen, die - wie hier - im Beitrittsgebiet unter Geltung von § 320 ZGB vorgenommen worden sind. Die eigentumsrechtliche Zuordnung des Gebäudes auf dem überbauten Grundstück nach dem Zivilgesetzbuch der DDR entspricht der des Bürgerlichen Gesetzbuchs.
Nur bei Annahme des Fortbestands der sachenrechtlichen Zuordnung des Überbaus zum Stammgrundstück ist gesichert, dass der Eigentümer dieses Grundstücks für den erforderlichen Abbruch des Überbaus auf dem überbauten Grundstück verantwortlich ist und sich dieser Verantwortung nicht durch den Abbruch allein des Gebäudes auf dem Stammgrundstück entziehen kann. Zugleich ist gewährleistet, dass der Eigentümer des Stammgrundstücks sein Interesse an der Beseitigung der Überbaureste auf dem Nachbargrundstück verwirklichen kann (§ 903 BGB).
BGH online
Die Klägerin war Eigentümerin eines ungeteilten Grundstücks in Dresden, auf dem im Jahr 1989 ein sog. Versuchsplattenbau errichtet wurde. Von den insgesamt zehn Segmenten dieses Plattenbaus standen sechs auf dem Grundstück der Klägerin, drei Segmente auf dem benachbarten Grundstück und ein Segment auf beiden Grundstücken. Das benachbarte Grundstück gehört der R. und K. K. GbR (fortan: GbR).
Die Klägerin erwirkte ein Urteil, durch das die GbR und deren Gesellschafter zur Herausgabe der auf dem Grundstück der GbR stehenden Segmente bzw. Segmentteile des Plattenbaus und der Gesellschafter R. K. zur Herausgabe der von ihm bewohnten Wohnung in diesen Segmenten verurteilt wurden. Die Berufung der GbR und ihrer Gesellschafter zum OLG Dresden und die gegen das Berufungsurteil eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH hatten keinen Erfolg. Bei der Vollstreckung des Herausgabeurteils erlangte die Klägerin den Besitz an dem Plattenbaurest auf dem Grundstück der GbR mit Ausnahme einer Wohnung im Erd- und Kellergeschoss, die sich im Besitz der Beklagten befindet und deren Herausgabe die Beklagte verweigert.
Die Klägerin teilte ihr Grundstück 2017 in Wohnungseigentum auf und veräußerte im Oktober 2017 die vorgesehenen Wohnungen. Die Plattenbausegmente auf ihrem Grundstück ließ die Klägerin abreißen. Dadurch wurde der Plattenbaurest auf dem Grundstück der GbR von allen Versorgungsleitungen abgeschnitten. Nach der Behauptung der Beklagten wurde die erste der auf dem Grundstück der Klägerin errichteten Eigentumswohnungen im Mai 2019 an einen Käufer übergeben.
Die Klägerin verlangt Herausgabe der von der Beklagten beanspruchten Wohnung an sich. Das AG hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Der BGH hat nun auch die Revision zurückgewiesen.
Die Gründe:
Die Beklagte ist nach § 985 BGB verpflichtet, die Wohnung an die Klägerin herauszugeben. Die Klägerin war bis zu dem Abbruch der auf ihrem Grundstück befindlichen Segmente des früheren Plattenbaus Eigentümerin auch der auf dem Grundstück der GbR befindlichen Segmente dieses Gebäudes. Dieser Gebäudeteil ist nämlich ein vor der Wiedervereinigung entstandener und nach wie vor zu duldender Überbau.
Der vor der Wiedervereinigung als Versuchsbau errichtete Plattenbau hat sich über beide Grundstücke erstreckt und sowohl aus baulicher als auch aus funktionaler Sicht ein einheitliches Gebäude dargestellt. Sämtliche Leitungen für Wasser, Abwasser, Strom und Heizung haben nur einen End- und Anfangspunkt; das ist auch der Grund dafür, dass der Gebäuderest nach dem Abbruch der Segmente auf dem Grundstück der Klägerin nicht mehr mit Wasser, Strom und Heizung versorgt ist und Abwasser nicht mehr entsorgt werden kann. Bei den Plattenbausegmenten auf dem Grundstück der GbR handelt es sich daher um einen zu duldenden Überbau auf deren Grundstück, der jedenfalls bis zum Abbruch der Segmente des Gebäudes auf dem Grundstück der Klägerin wesentlicher Bestandteil dieses Grundstücks gewesen ist. Daran ändert der von der Revision hervorgehobene Gesichtspunkt, dass der Plattenbau bei seiner Errichtung ein Eigengrenzüberbau war, nichts. Denn für die Bestimmung des Stammgrundstücks gelten bei einem Eigengrenzüberbau dieselben Grundsätze wie für bei einem aus anderen Gründen zu duldenden Überbau.
Die Segmente des Plattenbaus auf dem Grundstück der GbR sind auch nach dem Abbruch des Plattenbaus auf dem Stammgrundstück (dem Grundstück der Klägerin) wesentliche Bestandteile des Stammgrundstücks geblieben.
Der Abbruch des auf dem Stammgrundstück befindlichen Teils eines auf das Nachbargrundstück übergebauten Gebäudes führt allerdings dazu, dass die Vorschriften über die Verpflichtung zur Duldung eines entschuldigten bzw. rechtmäßigen Überbaus ihren Zweck nicht mehr erfüllen können. Mit dem Abbruch des Gebäudes auf dem Stammgrundstück wird nämlich der in dem Gebäude verkörperte wirtschaftliche Wert beseitigt, der vor einer Zerschlagung geschützt werden soll und die Duldungspflicht des Nachbarn nach oder analog § 912 Abs. 1 BGB rechtfertigt.
Bei einem zu duldenden Überbau hat der vollständige Abbruch des Gebäudes auf dem Stammgrundstück indessen "nur" zur Folge, dass die Duldungspflicht des Nachbarn entfällt. Dagegen bleibt die eigentumsrechtliche Zuordnung des auf dem Nachbargrundstück befindlichen Gebäudeteils zum Stammgrundstück unverändert. Das gilt auch für Überbauungen, die - wie hier - im Beitrittsgebiet unter Geltung von § 320 ZGB vorgenommen worden sind. Die eigentumsrechtliche Zuordnung des Gebäudes auf dem überbauten Grundstück nach dem Zivilgesetzbuch der DDR entspricht der des Bürgerlichen Gesetzbuchs.
Nur bei Annahme des Fortbestands der sachenrechtlichen Zuordnung des Überbaus zum Stammgrundstück ist gesichert, dass der Eigentümer dieses Grundstücks für den erforderlichen Abbruch des Überbaus auf dem überbauten Grundstück verantwortlich ist und sich dieser Verantwortung nicht durch den Abbruch allein des Gebäudes auf dem Stammgrundstück entziehen kann. Zugleich ist gewährleistet, dass der Eigentümer des Stammgrundstücks sein Interesse an der Beseitigung der Überbaureste auf dem Nachbargrundstück verwirklichen kann (§ 903 BGB).