16.01.2024

Zum Indizwert der Dokumentation in einer Patientenakte

Einer ordnungsgemäßen, zeitnah erstellten Dokumentation in Papierform, die keinen Anhalt für Veränderungen, Verfälschungen oder Widersprüchlichkeiten bietet, kommt zugunsten der Behandlungsseite Indizwirkung zu, die im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen ist. In die Beweiswürdigung sind alle vom Beweisgegner vorgebrachten Gesichtspunkte einzubeziehen. Der Beweisgegner muss nicht die inhaltliche Richtigkeit der Dokumentation widerlegen. Ihm obliegt nicht der Beweis des Gegenteils. Vielmehr genügt es, wenn er Umstände dartut, die bleibende Zweifel daran begründen, dass das Dokumentierte der Wahrheit entspricht, das Beweisergebnis also keine Überzeugung i.S.v. § 286 ZPO rechtfertigt. So verhält es sich insbesondere, wenn der Beweisgegner Umstände aufzeigt, die den Indizwert - die abstrakte Beweiskraft - der Dokumentation in Frage stellen.

BGH v. 5.12.2023 - VI ZR 108/21
Der Sachverhalt:
Die Klägerinnen begehren als Träger der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung Schadensersatz aus übergegangenem Recht des bei ihnen versicherten Kindes J. wegen behaupteter Behandlungsfehler bei dessen Geburt. Die Mutter von J. suchte am 10.9.2009 um 8.00 Uhr bei einsetzender Wehentätigkeit das Krankenhaus auf, in dem die Beklagte zu 1) als eine in Form der GbR betriebene Gemeinschaftspraxis eine gynäkologische und geburtshilfliche Belegabteilung unterhält. Die Beklagten zu 2) und 3) sind die persönlich haftenden Gesellschafter der Beklagten zu 1). Der Beklagte zu 4) war zur Zeit der Behandlung als Assistenzarzt in Weiterbildung bei der Beklagten zu 1) angestellt. Die ehemalige Beklagte zu 5) war in dem Krankenhaus als Beleghebamme tätig und nahm auf Wunsch der bei den Klägerinnen versicherten Kindesmutter auf der Grundlage eines entsprechenden Hebammenvertrags die Betreuung der Geburt wahr.

Beim Eintreffen der Mutter in der Klinik wurde diese zunächst von einer im Krankenhaus angestellten Hebamme betreut. Eine ärztliche Eingangsuntersuchung fand nicht statt. Um 11.00 Uhr übernahm die ehemalige Beklagte zu 5) (Beleghebamme) die Betreuung der Mutter. Sie schrieb mehrfach ein CTG, das ab 15.00 Uhr pathologisch, ab 15.30 Uhr eindeutig pathologisch und ab 15.55 Uhr hochpathologisch war. Die Beleghebamme reagierte hierauf allerdings nicht. In der von ihr geführten Dokumentation ist für 19.10 Uhr vermerkt: "(...) DIP I, H. S.[...] [Beklagter zu 4)] CTG gezeigt (...)". Um 19.36 Uhr rief die Beleghebamme den Beklagten zu 4) an und bat ihn, vorbeizukommen. Der Beklagte zu 4) traf spätestens um 19.45 Uhr im Kreißsaal ein und stellte fest, dass das CTG eine Bradykardie zeigte. Er nahm eine medikamentöse Notfalltokolyse vor und informierte den Beklagten zu 2). Dieser ordnete zunächst eine eilige und nach einem weiteren massiven Abfall der Herztöne eine Notsectio an. J. wurde um 20.20 Uhr geboren. Ein Operationsbericht über den Kaiserschnitt existiert nicht. Es liegen jedoch am Folgetag gefertigte Berichte der Beklagten zu 2) und 4) vor.

Im Bericht des Beklagten zu 2) heißt es u.a.: "Nach Eintreffen von Frau K. [...] [Beleghebamme] (Uhrzeit?) wird Frau G.[...] von der Hebamme übernommen und ausschließlich von ihr betreut. Über die weiteren Schritte, die von Frau K.[...] durchgeführt werden sowie über das CTG werden keine Informationen an Herrn S.[...] [Beklagter zu 4] und mich weitergegeben. Um 18.00 Uhr frage ich bei der Hebamme nach dem Befund und dem CTG nach. Mir wird mitgeteilt, dass der Muttermund 7 cm eröffnet ist, im CTG habe es einen DIP gegeben. Es sei jetzt aber wieder alles völlig in Ordnung. Um 19.55 Uhr werde ich dann von Herrn S. [... ] angerufen, dass ich bitte sofort in den Kreißsaal kommen möchte. (...) Aufgrund von immer wiederkehrenden Dezelerationen und dem Untersuchungsbefund Entschluss zur Sectio caesarea. Während der Vorbereitungen zur Sectio kommt es zu einem weiteren massiven Herztonabfall. Um 20.15 Uhr lassen sich die Herztöne des Kindes nicht mehr finden, deshalb sofortiger Entschluss zur Notsectio. Um 20.20 Uhr wird dann ein schlaffes Neugeborenes entwickelt, welches an den anwesenden Anästhesisten übergeben wird (...)".

Im Bericht des Beklagten zu 4) heißt es: "Von der stationären Aufnahme der Patientin bis 19.36 Uhr war ich informiert: Um 16.20 Uhr Blasensprung und Muttermund bis auf 7 cm weit geöffnet. Keine Informationen über CTG. Um 19.36 Uhr wurde ich von Frau K. [...] angerufen, der Muttermund ist vollständig, sonst keine anderen Informationen am Telefon. Neun Minuten später bin ich im Kreißsaal vor Ort angekommen. CTG: Bradykardie. (...) Info an Herrn Dr. med. A. [...] [Beklagter zu 2] über CTG und Befund. Dr. A. [...] trifft 8 Minuten später im Kreißsaal ein."

Das Kind war bei seiner Entbindung leblos, ohne eigene Atmung und ohne Muskeltonus. Es wurde von dem die Geburt betreuenden Anästhesisten reanimiert und um 20.35 Uhr von dem pädiatrischen Notdienst übernommen. Es leidet unter einer irreversiblen Hirnschädigung, aufgrund derer die Klägerinnen Leistungen in der Kranken- und Pflegeversicherung erbrachten und weiter erbringen.

Das LG erklärte die Leistungsklagen der Klägerinnen gegen die Beleghebamme dem Grunde nach für gerechtfertigt und stellte deren Ersatzverpflichtung fest. Die Hebamme habe grob behandlungsfehlerhaft nicht auf den dokumentierten Geburtsverlauf und das hochpathologische CTG reagiert. Spätestens um 15.55 Uhr habe eine zwingende Indikation bestanden, den diensthabenden Arzt zu informieren. Insoweit ist das Urteil rechtskräftig. Die gegen die Beklagten zu 1) bis 4) gerichteten Klagen wies das LG ab. Es konnte sich nicht davon überzeugen, dass die Ärzte der Beklagten zu 1) die Geburtsleitung vor 19.45 Uhr übernommen hatten. Es konnte sich insbesondere nicht davon überzeugen, dass der Beklagte zu 4) das CTG um 19.10 Uhr gesehen hatte. Das einzige Indiz, das für eine Anwesenheit des Beklagten zu 4) zu diesem Zeitpunkt im Kreißsaal spreche, sei die auf ihre eigene schriftliche Dokumentation gestützte Darstellung der Beleghebamme. Dies reiche für die Überzeugung der Kammer angesichts der Angaben der Kindsmutter und der Anhörung der Beleghebamme nicht aus.

Auf die Berufung der Klägerinnen erklärte das OLG die bezifferten Klageansprüche auch gegen die Beklagten zu 1) bis 4) für gerechtfertigt und stellte deren Ersatzverpflichtung fest. Auf die Revision der Beklagten zu 1) bis 4) hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Mit der Begründung des OLG kann eine Haftung der Beklagten zu 1) bis 4) für den Geburtsschaden des bei den Klägerinnen versicherten Kindes nicht bejaht werden. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des OLG, dem von der Beklagten zu 1) zur Erbringung der ihr obliegenden ärztlichen Leistungen der Geburtshilfe eingesetzten Beklagten zu 4) sei deshalb ein Behandlungsfehler unterlaufen, weil er das hochpathologische CTG um 19.10 Uhr zur Kenntnis genommen und gleichwohl zunächst nichts unternommen habe. Das OLG hat rechtsfehlerhaft den Beklagten die Beweislast dafür auferlegt, dass der Beklagte zu 4) das CTG nicht bereits um 19.10 Uhr gesehen hat. Entgegen der Auffassung des OLG ist der Inhalt der Dokumentation nicht zugunsten des Beweisführers als richtig zu unterstellen, soweit nicht der Beweisgegner das Gegenteil beweist. Eine derart weitgehende Wirkung kommt der Dokumentation des Behandlungsgeschehens nicht zu.

Der Senat und die überwiegende oberlandesgerichtliche Rechtsprechung haben einer ordnungsgemäßen, zeitnah erstellten Dokumentation in Papierform, die keinen Anhalt für Veränderungen, Verfälschungen oder Widersprüchlichkeiten bietet, zugunsten der Behandlungsseite Indizwirkung beigemessen, die im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen ist. Eine in diesem Sinne vertrauenswürdige Dokumentation kann dem Tatrichter die Überzeugung davon vermitteln, dass die dokumentierten Maßnahmen tatsächlich getroffen worden sind. Ihr darf der Tatrichter im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO grundsätzlich Glauben schenken.

Auch hier gilt aber, dass in die Beweiswürdigung alle vom Beweisgegner vorgebrachten Gesichtspunkte einzubeziehen sind. Der Beweisgegner muss nicht die inhaltliche Richtigkeit der Dokumentation widerlegen. Ihm obliegt nicht der Beweis des Gegenteils. Vielmehr genügt es, wenn er Umstände dartut, die bleibende Zweifel daran begründen, dass das Dokumentierte der Wahrheit entspricht, das Beweisergebnis also keine Überzeugung i.S.v. § 286 ZPO rechtfertigt. So verhält es sich insbesondere, wenn der Beweisgegner Umstände aufzeigt, die den Indizwert - die abstrakte Beweiskraft - der Dokumentation in Frage stellen. Ein Indizienbeweis ist nur überzeugungskräftig, wenn andere Schlüsse aus den Indiztatsachen ernstlich nicht in Betracht kommen. Die Hilfstatsache reicht für den Nachweis der Haupttatsache dann nicht aus und ist unerheblich, wenn das Indiz für sich allein und im Zusammenhang mit weiteren Indizien sowie dem sonstigen Sachverhalt nicht den ausreichend sicheren Schluss auf die Haupttatsache zulässt. Sollte dem Senatsurteil vom 14.3.1978 (VI ZR 213/76) diesbezüglich Anderes zu entnehmen sein, wird daran nicht festgehalten.

An dem erforderlichen Indizwert der Dokumentation fehlt es jedenfalls dann, wenn der Dokumentierende Umstände in der Patientenakte festgehalten hat, die sich zu Lasten des im konkreten Fall in Anspruch genommenen Mitbehandlers (Beweisgegners) auswirken, und nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies aus eigenem Interesse an einer Vermeidung oder Verringerung der eigenen Haftung erfolgt ist. In diesem Fall ist die Indiztatsache - die Dokumentation der jeweiligen Maßnahme - ambivalent. Sie lässt sich zwanglos sowohl mit dem vom Patienten zu haltenden Vortrag, der Dokumentierende habe die von ihm festgehaltene Maßnahme tatsächlich ergriffen, als auch mit dem von dem in Anspruch genommenen Mitbehandler zu erwartenden Vortrag vereinbaren, der Dokumentierende habe in Wirklichkeit nicht gegebene Umstände dokumentiert, um seine eigene Verantwortung für das Geschehen in Abrede zu stellen.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Beweislastregeln für Gesamtschuldner-Regress in der Arzthaftung
BGH vom 06.12.2022 - VI ZR 284/19
GesR 2023, 103

Beratermodul Medizinrecht:
Jura trifft Medizin. Zahlreiche große Kommentare zum Medizinrecht und Fachzeitschriften GesR und medstra in einer Datenbank. Inklusive Selbststudium nach § 15 FAO: Wann immer es zeitlich passt: Für Fachanwälte bietet das Beratermodul Beiträge zum Selbststudium mit Lernerfolgskontrolle und Fortbildungszertifikat. 4 Wochen gratis nutzen!
BGH online
Zurück