Zum Vorliegen eines Gehörsverstoßes in einem Arzthaftungsprozess
BGH v. 13.10.2020 - VI ZR 348/20
Der Sachverhalt:
Die Klägerin war am 6.11.2013 in dem von der Beklagten zu 1) betriebenen Krankenhaus, dessen ärztlicher Direktor der Beklagte zu 2) ist, wegen Rücken- und Leistenbeschwerden stationär aufgenommen worden. In der Nacht vom 9. auf den 10.11.2013 - nach Behauptung der Klägerin um 0:30 Uhr, nach Behauptung der Beklagten um 1:00 Uhr - klagte sie über Brustschmerzen mit Engegefühl und Übelkeit. Es lag ein akutes Koronarsyndrom vor. Sie erhielt von dem Pflegepersonal Nitrospray.
Am 10.11.2013 erfolgten verschiedene Untersuchungen; ab 2:20 Uhr ein EKG, um 11:46 Uhr eine Blutprobenentnahme, die einen erhöhten Troponinwert ergab, und die Verlegung auf die Kardiologie, um 12:54 Uhr ein weiteres EKG und ab 14:10 Uhr eine Angiographie (Herzkatheteruntersuchung). Einen weiteren Vorfall (starke Brustschmerzen) erlitt die Klägerin in der Nacht vom 10. auf den 11.11.2013 gegen 1:00 Uhr. Sie erhielt erneut Nitrospray. In der Folge wurden weitere Untersuchungen, unter anderem am 12.11.2013 eine TTE (transthorakale Echokardiografie), durchgeführt.
Die Klägerin behauptete, sie habe durch zwei nicht ausreichend behandelte Herzinfarkte im Hause der Beklagten eine Herzschwäche erlitten, die sie zuvor nicht gehabt habe. Ihre körperliche Leistungsfähigkeit sei stark herabgesetzt. Diese Folgen beruhten auf dem behandlungsfehlerhaften Vorgehen der Beklagten. In der streitgegenständlichen Nacht (vom 9. auf den 10.11.2013) sei sie nicht umgehend in die kardiologische Abteilung verlegt worden. Ein Arztkontakt sei nicht erfolgt. Die erforderlichen Untersuchungen seien zu spät durchgeführt worden.
Die Schlichtungsstelle hielt aufgrund eines eingeholten Gutachtens Ansprüche nicht für gegeben. LG und OLG haben die Klage jeweils sachverständig beraten abgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat der BGH die Berufungsentscheidung insoweit aufgehoben, als die Klage gegen die Beklagte zu 1) wegen der behaupteten Behandlungsfehler abgewiesen worden war. Die Sache wurde im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
Gründe:
Das Berufungsgericht ist unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu der Annahme gelangt, es sei gänzlich unwahrscheinlich, dass die - mangels Feststellungen des Berufungsgerichts zu Gunsten der Klägerin zu unterstellende - grob fehlerhafte Verzögerung der Befunderhebung und Behandlung des akuten Koronarsyndroms der Klägerin in der streitgegenständlichen Nacht für die in der Folge festgestellte diastolische Herzschwäche (Schwächung der Entspannungsfunktion des Herzens) mitursächlich sein könne.
Zwar hat das Berufungsgericht festgestellt, dass die Klägerin noch in der Nacht auf die "Chest Pain Unit" hätte verlegt werden müssen. Es hätte umgehend ein 12-Kanal-EKG geschrieben werden und eine Blutabnahme stattfinden müssen. Zutreffend wies die Klägerin zudem darauf hin, dass bei der Unterlassung einer gebotenen Befunderhebung eine Beweislastumkehr hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität auch dann erfolge, wenn bereits das Absehen von der gebotenen Befunderhebung einen groben ärztlichen Fehler darstelle und dieser geeignet sei, einen Schaden der eingetretenen Art herbeizuführen. Eine Verlagerung der Beweislast sei hier aber ausnahmsweise ausgeschlossen.
So hätten die Beklagten in der vom Berufungsgericht nachgeholten Beweisaufnahme bewiesen, dass der Ursachenzusammenhang zwischen dem Unterlassen und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin gänzlich unwahrscheinlich sei. Der Sachverständige habe es in seiner ergänzenden Anhörung vor dem Senat aus medizinischer Sicht als gänzlich unwahrscheinlich erachtet, dass die von der Klägerin geltend gemachten Beeinträchtigungen auf die festgestellten Behandlungsfehler zurückzuführen seien.
Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht bei diesen Ausführungen den Kern des Vorbringens der Klägerin, bei richtiger Behandlung hätte der Gefäßverschluss schneller geöffnet und die Folgen für sie hätten dadurch abgemildert werden können, übergangen hat. Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen einer Partei ausdrücklich auseinanderzusetzen. Vielmehr ist auch ohne ausdrückliche Erwähnung von Parteivorbringen grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen eines Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat.
Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann aber dann festgestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung gezogen hat. Davon ist u.a. dann auszugehen, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags eines Beteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingegangen ist, sofern er nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts nicht unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war. Und so liegt der Fall hier.
Die Klägerin hat vorgetragen, bei richtiger Behandlung hätte der Gefäßverschluss schneller geöffnet und die Folgen des ersten Herzinfarkts hätten dadurch abgemildert werden können. Der Sachverständige hatte, was die Klägerin sich in diesem Zusammenhang zu eigen gemacht hat und die Nichtzulassungsbeschwerde als übergangen rügte ausgeführt, dass in der akuten Schmerzsituation sofort ein EKG hätte geschrieben werden müssen. Dann hätte man möglicherweise eine Hebung sehen können, die den Gefäßverschluss angezeigt hätte und es hätte sofort eine Herzkatheteruntersuchung stattfinden müssen, um das Gefäß wieder zu öffnen. Dagegen ist das Schlichtungsgutachten - was die Nichtzulassungsbeschwerde ebenfalls als übergangen rügte - im Widerspruch zum gerichtlichen Sachverständigen davon ausgegangen, dass eine Hebung bei einem umgehend durchgeführten EKG nicht festgestellt worden wäre, mithin ein NSTEMI (Herzinfarkt ohne ST-Streckenhebung) vorgelegen habe. Das hat das Berufungsgericht bei seiner Würdigung jedoch übergangen.
BGH online
Die Klägerin war am 6.11.2013 in dem von der Beklagten zu 1) betriebenen Krankenhaus, dessen ärztlicher Direktor der Beklagte zu 2) ist, wegen Rücken- und Leistenbeschwerden stationär aufgenommen worden. In der Nacht vom 9. auf den 10.11.2013 - nach Behauptung der Klägerin um 0:30 Uhr, nach Behauptung der Beklagten um 1:00 Uhr - klagte sie über Brustschmerzen mit Engegefühl und Übelkeit. Es lag ein akutes Koronarsyndrom vor. Sie erhielt von dem Pflegepersonal Nitrospray.
Am 10.11.2013 erfolgten verschiedene Untersuchungen; ab 2:20 Uhr ein EKG, um 11:46 Uhr eine Blutprobenentnahme, die einen erhöhten Troponinwert ergab, und die Verlegung auf die Kardiologie, um 12:54 Uhr ein weiteres EKG und ab 14:10 Uhr eine Angiographie (Herzkatheteruntersuchung). Einen weiteren Vorfall (starke Brustschmerzen) erlitt die Klägerin in der Nacht vom 10. auf den 11.11.2013 gegen 1:00 Uhr. Sie erhielt erneut Nitrospray. In der Folge wurden weitere Untersuchungen, unter anderem am 12.11.2013 eine TTE (transthorakale Echokardiografie), durchgeführt.
Die Klägerin behauptete, sie habe durch zwei nicht ausreichend behandelte Herzinfarkte im Hause der Beklagten eine Herzschwäche erlitten, die sie zuvor nicht gehabt habe. Ihre körperliche Leistungsfähigkeit sei stark herabgesetzt. Diese Folgen beruhten auf dem behandlungsfehlerhaften Vorgehen der Beklagten. In der streitgegenständlichen Nacht (vom 9. auf den 10.11.2013) sei sie nicht umgehend in die kardiologische Abteilung verlegt worden. Ein Arztkontakt sei nicht erfolgt. Die erforderlichen Untersuchungen seien zu spät durchgeführt worden.
Die Schlichtungsstelle hielt aufgrund eines eingeholten Gutachtens Ansprüche nicht für gegeben. LG und OLG haben die Klage jeweils sachverständig beraten abgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat der BGH die Berufungsentscheidung insoweit aufgehoben, als die Klage gegen die Beklagte zu 1) wegen der behaupteten Behandlungsfehler abgewiesen worden war. Die Sache wurde im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
Gründe:
Das Berufungsgericht ist unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu der Annahme gelangt, es sei gänzlich unwahrscheinlich, dass die - mangels Feststellungen des Berufungsgerichts zu Gunsten der Klägerin zu unterstellende - grob fehlerhafte Verzögerung der Befunderhebung und Behandlung des akuten Koronarsyndroms der Klägerin in der streitgegenständlichen Nacht für die in der Folge festgestellte diastolische Herzschwäche (Schwächung der Entspannungsfunktion des Herzens) mitursächlich sein könne.
Zwar hat das Berufungsgericht festgestellt, dass die Klägerin noch in der Nacht auf die "Chest Pain Unit" hätte verlegt werden müssen. Es hätte umgehend ein 12-Kanal-EKG geschrieben werden und eine Blutabnahme stattfinden müssen. Zutreffend wies die Klägerin zudem darauf hin, dass bei der Unterlassung einer gebotenen Befunderhebung eine Beweislastumkehr hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität auch dann erfolge, wenn bereits das Absehen von der gebotenen Befunderhebung einen groben ärztlichen Fehler darstelle und dieser geeignet sei, einen Schaden der eingetretenen Art herbeizuführen. Eine Verlagerung der Beweislast sei hier aber ausnahmsweise ausgeschlossen.
So hätten die Beklagten in der vom Berufungsgericht nachgeholten Beweisaufnahme bewiesen, dass der Ursachenzusammenhang zwischen dem Unterlassen und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin gänzlich unwahrscheinlich sei. Der Sachverständige habe es in seiner ergänzenden Anhörung vor dem Senat aus medizinischer Sicht als gänzlich unwahrscheinlich erachtet, dass die von der Klägerin geltend gemachten Beeinträchtigungen auf die festgestellten Behandlungsfehler zurückzuführen seien.
Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht bei diesen Ausführungen den Kern des Vorbringens der Klägerin, bei richtiger Behandlung hätte der Gefäßverschluss schneller geöffnet und die Folgen für sie hätten dadurch abgemildert werden können, übergangen hat. Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen einer Partei ausdrücklich auseinanderzusetzen. Vielmehr ist auch ohne ausdrückliche Erwähnung von Parteivorbringen grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen eines Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat.
Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann aber dann festgestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung gezogen hat. Davon ist u.a. dann auszugehen, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags eines Beteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingegangen ist, sofern er nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts nicht unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war. Und so liegt der Fall hier.
Die Klägerin hat vorgetragen, bei richtiger Behandlung hätte der Gefäßverschluss schneller geöffnet und die Folgen des ersten Herzinfarkts hätten dadurch abgemildert werden können. Der Sachverständige hatte, was die Klägerin sich in diesem Zusammenhang zu eigen gemacht hat und die Nichtzulassungsbeschwerde als übergangen rügte ausgeführt, dass in der akuten Schmerzsituation sofort ein EKG hätte geschrieben werden müssen. Dann hätte man möglicherweise eine Hebung sehen können, die den Gefäßverschluss angezeigt hätte und es hätte sofort eine Herzkatheteruntersuchung stattfinden müssen, um das Gefäß wieder zu öffnen. Dagegen ist das Schlichtungsgutachten - was die Nichtzulassungsbeschwerde ebenfalls als übergangen rügte - im Widerspruch zum gerichtlichen Sachverständigen davon ausgegangen, dass eine Hebung bei einem umgehend durchgeführten EKG nicht festgestellt worden wäre, mithin ein NSTEMI (Herzinfarkt ohne ST-Streckenhebung) vorgelegen habe. Das hat das Berufungsgericht bei seiner Würdigung jedoch übergangen.