21.05.2024

Zur Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses trotz unvollständig übersandter Gerichtsakten

Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses, durch den die Klage eines Versicherungsnehmers auf Feststellung der Unwirksamkeit von Beitragsanpassungen und Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge nach einem Parteiwechsel auf Beklagtenseite an das Sitzgericht des zuletzt verklagten Versicherers verwiesen wurde, entfällt nicht schon deshalb, weil die Gerichtsakten auch innerhalb einer von dort gesetzten Frist nicht in vollständig lesbarer elektronischer Form eingegangen sind.

OLG Saarbrücken v. 23.4.2024 - 5 Sa 1/24
Der Sachverhalt:
Der in N wohnhafte Kläger, dessen zum LG Saarbrücken erhobene Klage zunächst einen dort ansässigen Versicherer betraf, nimmt im Anschluss an einen von ihm bewirkten Parteiwechsel auf Beklagtenseite jetzt nur noch die in Nürnberg ansässige Beklagte auf Rückerstattung von Krankenversicherungsbeiträgen in Anspruch. Diese rügt nach Zustellung der entsprechenden Klage am 12.7.2023 die Zuständigkeit des LG Saarbrücken, der Kläger beantragte mit Schriftsatz vom 29.11.2023 die Verweisung des Rechtsstreits an das LG Nürnberg-Fürth, woraufhin das LG Saarbrücken sich - nach Gewährung rechtlichen Gehörs - mit Beschluss vom 3.1.2024 für unzuständig erklärte und den Rechtsstreit an das LG Nürnberg-Fürth verwies.

Das LG Nürnberg-Fürth erließ am 12.3.2024 - ohne erkennbare vorherige Anhörung der Parteien - einen Beschluss, in dem es (wörtlich) "die Übernahme des Verfahrens ablehnt" und zur Begründung ausführte, das LG Saarbrücken habe den Rechtsstreit mit Beschluss vom 3.1.2024 an das LG Nürnberg-Fürth "abgegeben", dabei sei die Akte unvollständig an das LG Nürnberg-Fürth übersandt worden. Nachdem die Akte trotz Nachfrage durch die Geschäftsstelle weiterhin nicht vollständig übersandt worden sei, sei das LG Saarbrücken mit Verfügung vom 16.2.2024 aufgefordert worden, bis zum 4.3.2024 eine vollständige sowie vollständig paginierte Akte zu übersenden, gleichzeitig sei darauf hingewiesen worden, dass die Übernahme des Verfahrens anderenfalls abgelehnt werden würde. Hierauf sei weder die Übersendung der vollständigen Akte noch eine sonstige Reaktion erfolgt. Das LG Saarbrücken legte die Sache dem Senat zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vor.

Das OLG entschied, dass das LG Nürnberg-Fürth zuständig ist.

Die Gründe:
Die Zuständigkeit des LG Nürnberg-Fürth folgt schon aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des LG Saarbrücken vom 3.1.2024, durch den die Sache an das für die Beklagte nach § 17 Abs. 1 ZPO zuständige Sitzgericht verwiesen wurde. Im Falle eines negativen Kompetenzkonflikts innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist grundsätzlich das Gericht als zuständig zu bestimmen, an das die Sache in dem zuerst ergangenen Verweisungsbeschluss verwiesen worden ist. Dies folgt aus der Regelung in § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO, wonach ein auf der Grundlage von § 281 ZPO ergangener Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das die Sache verwiesen wird, bindend ist.

Diese Bindungswirkung entfällt nur dann, wenn der Verweisungsbeschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa, weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss. Hierfür genügt nicht, dass der Beschluss inhaltlich unrichtig oder fehlerhaft ist. Willkür liegt nur vor, wenn der Verweisungsbeschluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.

Davon kann vorliegend jedoch keine Rede sein; insbesondere entfällt die Bindungswirkung der - vom LG Saarbrücken verfahrenskonform bewirkten - Verweisung hier nicht angesichts einer in der Literatur vertretenen Ansicht, dies sei nach Ausübung des Wahlrechts (§ 35 ZPO) durch den Kläger auch bei Parteierweiterung oder -wechsel auf Beklagtenseite nicht mehr möglich. Denn gerade für den hier vorliegenden Fall der Klageänderung in Form eines Parteiwechsels auf Beklagtenseite wird diese Frage in der Rechtsprechung, der das LG Saarbrücken erkennbar gefolgt ist, mit beachtlichen Gründen anders beurteilt. Dagegen sind die vom LG Nürnberg-Fürth beschriebenen technischen Schwierigkeiten beim Empfang der elektronischen Gerichtsakte von vornherein - offensichtlich - kein von der Prozessordnung anerkannter Grund, die Übernahme des Rechtsstreits - zumal auch ohne erkennbare vorherige Beteiligung der Parteien - abzulehnen.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | ZPO
§ 36 Gerichtliche Bestimmung der Zuständigkeit
Schultzky in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024
10/2023

Kommentierung | ZPO
§ 281 Verweisung bei Unzuständigkeit
Greger in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024
10/2023

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