20.06.2024

Zur Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Falle eines fehlerhaften Protokollurteils

Ein Protokollurteil kann in der Weise prozessordnungsgemäß ergehen, dass ein alle nach § 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 ZPO erforderlichen Bestandteile enthaltendes Urteil von den mitwirkenden Richtern unterschrieben und mit dem Sitzungsprotokoll verbunden wird, um so den inhaltlichen Bezug zu den in das Sitzungsprotokoll "ausgelagerten" tatsächlichen und rechtlichen Darlegungen nach § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 ZPO herzustellen. Insoweit reicht es jedoch nicht aus, wenn die nach § 311 Abs. 2 ZPO für die Verkündung regelmäßig erforderliche schriftlich abgefasste Urteilsformel bereits von den mitwirkenden Richtern unterschrieben wurde, dieses Schriftstück aber mit dem zunächst vorläufig aufgezeichneten Sitzungsprotokoll erst nach dessen Herstellung verbunden wird. Vielmehr muss das - aus mehreren Teilen bestehende - Protokollurteil schon im Zeitpunkt seiner Unterzeichnung durch die mitwirkenden Richter in vollständiger Form abgefasst sein.

BGH v. 14.5.2024 - VIII ZR 15/24
Der Sachverhalt:
Die Klägerin nimmt die Beklagte nach Zahlungsverzugskündigung auf Räumung und Herausgabe einer Wohnung sowie auf Zahlung rückständiger Miete und einer Betriebskostennachzahlung in Anspruch. Das AG gab der Klage statt. Das LG, welches die Gerichtsakte im Berufungsverfahren elektronisch geführt hat, wies die hinsichtlich des Räumungsausspruchs in vollem Umfang und hinsichtlich des Zahlungsausspruchs nur teilweise eingelegte Berufung der Beklagten zurück. Das am Ende der Sitzung verkündete, als elektronisches Dokument von allen drei mitwirkenden Richtern signierte Urteil des LG (vgl. § 130b Satz 1 ZPO) enthält lediglich das Rubrum (§ 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 ZPO) und die Entscheidungsformel (§ 313 Abs. 1 Nr. 4 ZPO). Unter der Überschrift "Gründe" wird ausgeführt, dass von einem Tatbestand und der Ausformulierung von Entscheidungsgründen "gem. §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 2 ZPO abgesehen [werde], da ein Rechtsmittel gegen das Urteil unzweifelhaft nicht zulässig ist (§§ 542, 543 Abs. 1 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO) und der wesentliche Inhalt der Entscheidungsgründe in das Protokoll der mündlichen Verhandlung aufgenommen wurde".

In dem zunächst vorläufig aufgezeichneten und nach Fertigstellung als elektronisches Dokument allein von der Vorsitzenden Richterin signierten Sitzungsprotokoll sind die Namen der Parteien nur mit einem Kurzrubrum angegeben ("L. ./. H. ."). Im Anschluss an die Berufungsanträge enthält das Protokoll kurze rechtliche Erwägungen und Hinweise des LG zur (Un-)Begründetheit der Berufung sowie verschiedene Prozesserklärungen der Parteien. Danach bestehe ein Räumungsanspruch der Klägerin, weil diese die Kündigung des Mietverhältnisses wirksam ausgesprochen habe und die Kündigung aufgrund des Rückstands auch begründet sei. Aufgrund dieser und weiterer Ausführungen nahm die Klägerin die Klage insoweit sowie hinsichtlich eines Teils der auf vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten verlangten Verzugszinsen mit Zustimmung der Beklagten zurück. Nachfolgend zu dem Hinweis "Die Gründe wurden ins Protokoll diktiert" ist zudem im Sitzungsprotokoll vermerkt, dass "das aus der Anlage zum Protokoll ersichtliche Urteil durch Bezugnahme auf den entscheidenden Teil verkündet" worden sei (vgl. § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO). Das Sitzungsprotokoll und das Urteil des LG sind in der Gerichtsakte jeweils als gesonderte elektronische Dokumente vorhanden, nicht jedoch miteinander verbunden.

Der Senat bewilligte der Beklagten Prozesskostenhilfe für ein beabsichtigtes Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren und ordnete ihr eine Rechtsanwältin bei. Der Beschluss wurde dem zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 15.1.2024 zugestellt. Mit am 29.1.2024 eingegangenem Anwaltsschriftsatz legte die Beklagte Nichtzulassungsbeschwerde ein und beantragte Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdeeinlegungsfrist. Mit am 15.2.2024 eingegangenem Schriftsatz begründete die Beklagte die Beschwerde und beantragte Wiedereinsetzung in die versäumte Begründungsfrist.

Der BGH gewährte der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, hob auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin das Urteil des LG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Die angefochtene Entscheidung verletzt in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das LG hat in offenkundiger Verkennung der Voraussetzungen der § 313a Abs. 1, § 540 Abs. 2 ZPO und damit unter Missachtung der an ein Protokollurteil gem. § 540 Abs. 1 Satz 2 ZPO zu stellenden Anforderungen ein Urteil erlassen, das lediglich die in § 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 4, § 315 Abs. 1 Satz 1 ZPO genannten Voraussetzungen erfüllt, jedoch nicht mit einem - vorher erstellten und sämtliche Darlegungen nach § 540 Abs. 1 ZPO enthaltenden - Sitzungsprotokoll verbunden ist und daher nicht erkennen lässt, dass sich das LG mit dem - von der Nichtzulassungsbeschwerde angeführten - Vorbringen der Beklagten in der Berufungserwiderung befasst hat.

Das Berufungsurteil enthält entgegen der Vorschrift des § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO weder eine Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im Urteil des AG noch trifft es ergänzende oder abweichende Feststellungen zum Streitstoff in zweiter Instanz. Dieser Mangel wurde nicht durch das Sitzungsprotokoll behoben. Unabhängig davon, dass dieses Protokoll auch in anderer Hinsicht nicht den Anforderungen an ein Protokollurteil i.S.d. § 540 Abs. 1 Satz 2 ZPO genügt, ist hierin unter Verstoß gegen § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO (ebenfalls) von der Aufnahme tatsächlicher Feststellungen in der irrtümlichen Annahme abgesehen worden, gegen das Berufungsurteil sei unzweifelhaft ein Rechtsmittel nicht eröffnet.

Dem Urteil des LG fehlt zudem auch die gem. § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 ZPO erforderliche rechtliche Begründung, auf die in Anbetracht einer möglichen Anfechtung durch eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gem. § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 2 ZPO hätte verzichtet werden dürfen. Die vom LG in das Sitzungsprotokoll aufgenommenen rechtlichen Erwägungen sind nicht zu berücksichtigen, weil sie weder Bestandteil des am Schluss der Sitzung verkündeten Berufungsurteils geworden sind noch das Sitzungsprotokoll für sich betrachtet die Anforderungen an ein (eigenständiges) Protokollurteil i.S.d. § 540 Abs. 1 Satz 2 ZPO erfüllt. Das Vorgehen des LG wird den Möglichkeiten, ein den gesetzlichen Vorgaben des § 540 Abs. 1 Satz 1, 2 ZPO entsprechendes Protokollurteil zu erlassen, nicht gerecht.

Ein Protokollurteil kann in der Weise prozessordnungsgemäß ergehen, dass ein alle nach § 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 ZPO erforderlichen Bestandteile enthaltendes Urteil von den mitwirkenden Richtern unterschrieben und mit dem Sitzungsprotokoll verbunden wird, um so den inhaltlichen Bezug zu den in das Sitzungsprotokoll "ausgelagerten" tatsächlichen und rechtlichen Darlegungen nach § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 ZPO herzustellen. Insoweit reicht es jedoch nicht aus, wenn die nach § 311 Abs. 2 ZPO für die Verkündung regelmäßig erforderliche schriftlich abgefasste Urteilsformel bereits von den mitwirkenden Richtern unterschrieben wurde, dieses Schriftstück aber mit dem zunächst vorläufig aufgezeichneten Sitzungsprotokoll erst nach dessen Herstellung verbunden wird. Vielmehr muss das - aus mehreren Teilen bestehende - Protokollurteil schon im Zeitpunkt seiner Unterzeichnung durch die mitwirkenden Richter in vollständiger Form abgefasst sein.

Diese Anforderungen sind vorliegend nicht erfüllt. Das Sitzungsprotokoll war, wie der Vermerk an dessen Ende zeigt ("für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Übertragung vom Tonträger", vgl. § 163 Abs. 1 Satz 2 ZPO), zunächst nur vorläufig aufgezeichnet und wurde erst nachfolgend zu der am Schluss der Sitzung erfolgten Verkündung des abgekürzten Berufungsurteils als elektronisches Dokument erstellt. Zudem fehlt es - bis heute - an der für die Herstellung des inhaltlichen Bezugs des Berufungsurteils zu den in das Sitzungsprotokoll "ausgelagerten" Darlegungen erforderlichen Verbindung von Sitzungsprotokoll und Urteil; der Hinweis im Berufungsurteil auf das Sitzungsprotokoll genügt hierfür nicht. Die Verbindung beider Urkunden kann auch nicht mehr nachgeholt werden, weil seit der Verkündung des Berufungsurteils mehr als fünf Monate verstrichen sind.

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