Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats bei widerrechtlicher Verbringung eines Kindes in einen Drittstaat
EuGH, C-603/20: Schlussanträge des Generalanwalts vom 23.2.2021
Der Sachverhalt:
P ist eine drei Jahre alte britische Staatsbürgerin. Ihre Eltern üben die elterliche Verantwortung ihr ggü. gemeinsam aus, besitzen die indische Staatsangehörigkeit und verfügen über eine Aufenthaltserlaubnis für das Vereinigte Königreich. MCP, die Mutter des Kindes, ist im November 2017 mit dem Kind nach Indien geflüchtet und dann vorübergehend ins Vereinigte Königreich zurückgekehrt; das Kind soll aber seit April 2019 dauerhaft in Indien geblieben sein. Die Mutter soll ins Vereinigte Königreich zurückgekehrt sein, um dort zu leben, und habe das Kind bei seiner Großmutter mütterlicherseits gelassen.
Der im Vereinigte Königreich verbliebene Vater habe das Kind seit 2018 nicht gesehen und möchte, dass es bei ihm lebt, hilfsweise, dass er mit ihm Kontakte unterhalten kann. Am 26.8.2020 erhob der Vater beim High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen), eine Klage, mit der er u.a. die Rückkehr des Kindes ins Vereinigte Königreich sowie ein Umgangsrecht erwirken will.
Der High Court of Justice ist der Ansicht, dass das Verhalten der Mutter sehr wahrscheinlich den Tatbestand eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens des Kindes nach bzw. in Indien erfülle, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes zum Zeitpunkt der Erhebung der Klage des Vaters aber in Indien befunden habe.
Der High Court of Justice hat beschlossen, den EuGH mit der Frage zu befassen, ob der High Court of Justice im Hinblick auf die Brüssel-IIaVerordnung dafür zuständig ist, über den bei ihm gestellten Antrag zu entscheiden. Er möchte nämlich wissen, ob ein Mitgliedstaat, in dem ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bevor es widerrechtlich in einen Drittstaat verbracht (oder dort zurückgehalten) wurde, wo es im Anschluss seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, gemäß dieser Verordnung zeitlich unbegrenzt zuständig bleibt.
Der Generalanwalt empfiehlt dem EuGH, zu entscheiden, dass bei Entführung eines Kindes in einen Drittstaat die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, zeitlich unbegrenzt für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung für das Kind zuständig bleiben, und zwar auch dann, wenn das Kind in diesem Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt.
Die Gründe:
Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich, dass die Anwendung der Brüssel-IIa-Verordnung Rechtsverhältnisse betreffen kann, die einen Bezug zu Drittstaaten aufweisen, obwohl im Wortlaut dieser Bestimmung keine Rede von Drittstaaten ist. Die Brüssel-IIa-Verordnung sieht in Art. 10 vor, dass bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, so lange zuständig bleiben, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat.
Die Brüssel-IIa-Verordnung erwähnt zwar nur die Mitgliedstaaten, regelt aber auch Rechtsverhältnisse, die einen Bezug zu einem Drittstaat aufweisen, und zwar dergestalt, dass diese Rechtsverhältnisse keine Übertragung der Zuständigkeit auf die Gerichte dieses Drittstaats zur Folge haben können. Dabei ist es unerheblich, ob das betreffende Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Drittstaat begründet, da es seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in einem anderen Mitgliedstaat erlangt.
Im Gegensatz zu der zwischen zwei Mitgliedstaaten bestehenden Situation bleiben daher die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind vor seiner Entführung in einen Drittstaat gewöhnlich aufgehalten hat, zeitlich unbegrenzt zuständig (perpetuatio fori). Ist ein Kind in einen Drittstaat entführt worden, können die Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen, wie sie im Unionsrecht vorgesehen sind, nicht gelten. Daher ist es nicht gerechtfertigt, die Zuständigkeit der Gerichte dieses Drittstaats anzuerkennen, und zwar auch dann nicht, wenn das entführte Kind in diesem Staat seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat.
Das Ziel der Brüssel-IIa-Verordnung zum Wohl des Kindes besteht allgemein darin, dass das Gericht, das dem Kind räumlich am nächsten ist und daher dessen Situation und Entwicklungsstand am besten kennt, die erforderlichen Entscheidungen treffen kann. Allerdings ist die Rechtsprechung zu beachten, nach der diese Verordnung darauf hinwirken soll, dass von Kindesentführungen zwischen Mitgliedstaaten Abstand genommen wird, und darauf, dass eine solche Entführung grundsätzlich keine Übertragung der Zuständigkeit von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, zur Folge haben darf. Der Zweck, Kindesentführungen zu verhindern, fällt aber nicht weg, nur weil ein Kind in einen Drittstaat verbracht wird. Daher kann zum Schutz des Kindeswohls eine rechtswidrige Handlung, d.h. die Entführung eines Kindes durch einen Elternteil, keinen Wechsel des für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung zuständigen Gerichts bewirken.
Wird ein Kind, das die Unionsbürgerschaft besitzt, in einen Drittstaat entführt, so bedeutet die Anerkennung der Zuständigkeit der Gerichte dieses Staates für Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für das Kind, dass jede Verbindung zum Unionsrecht gekappt wird, obwohl das Kind Opfer eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens ist. Diese unrechtmäßige Handlung darf einem solchen Kind nicht die Möglichkeit nehmen, das Recht auf Prüfung der ihm ggü. bestehenden elterlichen Verantwortung durch ein mitgliedstaatliches Gericht effektiv wahrzunehmen.
EuGH PM Nr. 18 vom 23.2.2021
P ist eine drei Jahre alte britische Staatsbürgerin. Ihre Eltern üben die elterliche Verantwortung ihr ggü. gemeinsam aus, besitzen die indische Staatsangehörigkeit und verfügen über eine Aufenthaltserlaubnis für das Vereinigte Königreich. MCP, die Mutter des Kindes, ist im November 2017 mit dem Kind nach Indien geflüchtet und dann vorübergehend ins Vereinigte Königreich zurückgekehrt; das Kind soll aber seit April 2019 dauerhaft in Indien geblieben sein. Die Mutter soll ins Vereinigte Königreich zurückgekehrt sein, um dort zu leben, und habe das Kind bei seiner Großmutter mütterlicherseits gelassen.
Der im Vereinigte Königreich verbliebene Vater habe das Kind seit 2018 nicht gesehen und möchte, dass es bei ihm lebt, hilfsweise, dass er mit ihm Kontakte unterhalten kann. Am 26.8.2020 erhob der Vater beim High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen), eine Klage, mit der er u.a. die Rückkehr des Kindes ins Vereinigte Königreich sowie ein Umgangsrecht erwirken will.
Der High Court of Justice ist der Ansicht, dass das Verhalten der Mutter sehr wahrscheinlich den Tatbestand eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens des Kindes nach bzw. in Indien erfülle, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes zum Zeitpunkt der Erhebung der Klage des Vaters aber in Indien befunden habe.
Der High Court of Justice hat beschlossen, den EuGH mit der Frage zu befassen, ob der High Court of Justice im Hinblick auf die Brüssel-IIaVerordnung dafür zuständig ist, über den bei ihm gestellten Antrag zu entscheiden. Er möchte nämlich wissen, ob ein Mitgliedstaat, in dem ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bevor es widerrechtlich in einen Drittstaat verbracht (oder dort zurückgehalten) wurde, wo es im Anschluss seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, gemäß dieser Verordnung zeitlich unbegrenzt zuständig bleibt.
Der Generalanwalt empfiehlt dem EuGH, zu entscheiden, dass bei Entführung eines Kindes in einen Drittstaat die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, zeitlich unbegrenzt für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung für das Kind zuständig bleiben, und zwar auch dann, wenn das Kind in diesem Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt.
Die Gründe:
Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich, dass die Anwendung der Brüssel-IIa-Verordnung Rechtsverhältnisse betreffen kann, die einen Bezug zu Drittstaaten aufweisen, obwohl im Wortlaut dieser Bestimmung keine Rede von Drittstaaten ist. Die Brüssel-IIa-Verordnung sieht in Art. 10 vor, dass bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, so lange zuständig bleiben, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat.
Die Brüssel-IIa-Verordnung erwähnt zwar nur die Mitgliedstaaten, regelt aber auch Rechtsverhältnisse, die einen Bezug zu einem Drittstaat aufweisen, und zwar dergestalt, dass diese Rechtsverhältnisse keine Übertragung der Zuständigkeit auf die Gerichte dieses Drittstaats zur Folge haben können. Dabei ist es unerheblich, ob das betreffende Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Drittstaat begründet, da es seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in einem anderen Mitgliedstaat erlangt.
Im Gegensatz zu der zwischen zwei Mitgliedstaaten bestehenden Situation bleiben daher die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind vor seiner Entführung in einen Drittstaat gewöhnlich aufgehalten hat, zeitlich unbegrenzt zuständig (perpetuatio fori). Ist ein Kind in einen Drittstaat entführt worden, können die Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen, wie sie im Unionsrecht vorgesehen sind, nicht gelten. Daher ist es nicht gerechtfertigt, die Zuständigkeit der Gerichte dieses Drittstaats anzuerkennen, und zwar auch dann nicht, wenn das entführte Kind in diesem Staat seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat.
Das Ziel der Brüssel-IIa-Verordnung zum Wohl des Kindes besteht allgemein darin, dass das Gericht, das dem Kind räumlich am nächsten ist und daher dessen Situation und Entwicklungsstand am besten kennt, die erforderlichen Entscheidungen treffen kann. Allerdings ist die Rechtsprechung zu beachten, nach der diese Verordnung darauf hinwirken soll, dass von Kindesentführungen zwischen Mitgliedstaaten Abstand genommen wird, und darauf, dass eine solche Entführung grundsätzlich keine Übertragung der Zuständigkeit von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, zur Folge haben darf. Der Zweck, Kindesentführungen zu verhindern, fällt aber nicht weg, nur weil ein Kind in einen Drittstaat verbracht wird. Daher kann zum Schutz des Kindeswohls eine rechtswidrige Handlung, d.h. die Entführung eines Kindes durch einen Elternteil, keinen Wechsel des für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung zuständigen Gerichts bewirken.
Wird ein Kind, das die Unionsbürgerschaft besitzt, in einen Drittstaat entführt, so bedeutet die Anerkennung der Zuständigkeit der Gerichte dieses Staates für Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für das Kind, dass jede Verbindung zum Unionsrecht gekappt wird, obwohl das Kind Opfer eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens ist. Diese unrechtmäßige Handlung darf einem solchen Kind nicht die Möglichkeit nehmen, das Recht auf Prüfung der ihm ggü. bestehenden elterlichen Verantwortung durch ein mitgliedstaatliches Gericht effektiv wahrzunehmen.